Das Weihnachten der Anderen

Erster Weihnachtsfeiertag, mittags. Spätestens nach dem apostolischen Segen Urbi et Orbi leert sich der Petersplatz und schließlich die Straßen der Stadt. Alles eilt nach Hause, wo die Familie mit einem üppigen Weihnachtsmahl und Geschenken wartet. Als arm gilt heute, wer ohne Verwandten und Freunde geblieben ist.

Quelle: http://www.santegidio.org/

Vor Santa Maria di Trastevere bildet sich eine immer größer werdende Menschentraube. Es regnet Bindfäden. Die Presse darf über einen Seiteneingang des Gemeindehauses die Kirche betreten. An uns drängen sich junge Männer mit großen dampfenden Warmhaltekisten vorbei und ziehen köstliche Duftschwaden von frisch zubereiteten Nudelauflauf und Braten hinter sich her. In der Großküche des Gemeindehauses stehen Öfen und Mikrowelle bereit, um die einzelnen Gerichte vor dem Auftragen noch einmal aufzuwärmen.

In der festlich ausgeleuchteten Basilika herrscht Hochbetrieb. Unmittelbar nach der Weihnachtsmesse um 12 Uhr musste man das Mittelschiff in einen riesigen Speisesaal verwandeln, die schweren Kirchenbänke in der Sakristei stapeln und 22 lange Tische für 420 Gedecke in zwei Reihen aufbauen. Die weiß eingedeckte Tafel an der Stirnseite vor dem Hochaltar ist für den jungen Pfarrer der Kirche, Don Marco, und zehn Ehrengästen reserviert. Die anderen Tische werden unter roten Tischtüchern verhüllt. Die Liebe und Sorgfalt zum Detail, die man bei der Tischdekoration hat walten lassen, fallen sofort ins Auge: hier im Süden selten zu findende Tannengestecke mit goldenen Schleifen zieren die Mitte, hübsche Weihnachtsteller aus Papier und nicht dem üblichen billigen Plastik der Mensen und dazu für jeden Gast ein in grünes Papier verpacktes kleines Tischgeschenk, pensierino genannt. Dutzende von Helfern rennen umher. Es fehlen noch die Wasserflaschen und Brotkörbe auf den Tischen. Bis zum Einlass um 13 Uhr soll alles perfekt für das Weihnachtsmahl vorbereitet sein.

Wo der Bettler König ist

In einer Seitenkapelle stapeln sich große rote Geschenktüten. Im fiebrigen Eifer werden noch die letzten Geschenke mit Namen versehen, die aus einer langen Liste entnommen werden. Ein Wunder der Logistik angesichts der Gästezahl! „Die großen Geschenke sind nur für unsere besonderen Schützlinge, Behinderte und Kranke, erklärt Livia, eine ehrenamtliche Helferin. Hier ist zum Beispiel ein Wollmantel für Chicco, der im Rollstuhl sitzt und in einer unbeheizten Wohnung lebt. Für die restlichen Gäste haben wir weniger aufwendige Geschenke besorgt, wie kleines Rasierset für den Mann oder einen Waschbeutel für die Frau. Kinder hingegen erhalten Malstifte oder Spielzeug.“

Francesco Dante, langjähriger Pressesprecher von Sant’Egidio, verkündet nicht ohne Stolz: „Jeder Gast bekommt ein persönlich für ihn ausgesuchtes Geschenk, das ihm vom Weihnachtsmann nach dem Essen überreicht wird.“ Aber das ist nur der krönende Abschluss der Weihnachtsfeier. „Niemand soll sich am Hochfest des Heilands, das schließlich ein Freudenfest ist, einsam und ungeliebt fühlen. Deswegen geben wir an unsere „Freunde“ schriftliche Einladungen aus. Von den knapp 6000 Obdachlosen in Rom kennen und betreuen wir persönlich 4500.“

Das von Sant’Egidio seit 1982 jährlich organisierte Weihnachtsessen unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von den üblichen Armenspeisungen. Allein die Bewirtung in einem der schönsten Gotteshäuser Roms, die Marienkirche ist berühmt für ihre Mosaiken, mit einem Festmahl, das vom Feinsten ist, lässt den Gast sich als König fühlen und die Liebesbotschaft des Evangeliums am eigenen Leibe erfahren. Denn es gilt nicht nur materielle Bedürfnisse wie Hunger und Durst zu stillen, sondern vor allem das Bedürfnis nach Wärme, Geborgenheit und Gemeinschaft! Und das drückt sich in vielen kleinen Gesten aus: die ehrenamtlichen Helfer haben sich in Schale geworfen und tragen jedem Gast das Essen auf wie in einem first class Restaurant, die Begrüßung eines jeden Einzelnen mit Namen, die persönlichen Geschenke, überhaupt die ausgesuchte Höflichkeit, mit der auch der verwahrlosteste Obdachlose behandelt wird!

Die Obdachlosen bilden nur einen Teil der Schützlinge der bekannten Laiengemeinschaft Sant’Egidio. Zwei Drittel sind Ausländer, darunter viele politische Flüchtlinge, Sinti und Roma. Aber die Gruppe der Einheimischen ist in den letzten Jahren spürbar gewachsen: neben alten Leuten, deren Pension zum Unterhalt nicht ausreicht, und einsamen Menschen ohne Familienanschluss scharen sich vor allem kinderreiche Familien. Die Sparmassnahmen der Regierung haben die ohnehin lockeren Maschen des italienischen Sozialnetzes noch stärker geweitet.

Endlich ist es soweit, die Kirchenpforten werden geöffnet. Eine etwas nass geregnete, aber strahlende Völkerschar betritt die beheizte Basilika, jingle bells dudelt aus den Lautsprechern. Die Vergabe von Tischnummer erleichtert das auffinden des zugewiesenen Platzes. Selbst die auf der Straße lebenden, scheinen sich für den Anlass in den kommunalen Bädern gewaschen und ihr bestes Kleidungsstück aus der Plastiktüte gefischt zu haben. Man stellt sich mit Namen vor. Damit keine isolierten Gruppen entstehen, werden die Tischgesellschaften bewusst aus Älteren, Familien, Ausländern und Behinderten heterogen komponiert. Das dreigängige Menu stammt nicht etwa aus einer Großküche, es wurde aus verschiedenen römischen Restaurants zusammengetragen. Eine Sisyphos-Arbeit allein für die Helfer, die über hundert Essenskisten aus allen Teilen der Stadt anschleppen müssen: Lasagne al forno, dann Fleischklösse mit Kartoffel-Gratin und Linsen als Hauptgang und als Nachtisch Kuchen und frisches Obst, sowie zum Anstoßen Sekt. Aus Rücksichtnahme auf muslimische und jüdische Besucher wurde auf Schweinefleisch verzichtet.

Natürlich handelt es sich bei den Gästen der Marienkirche um auserwählte, zum Teil langjährige „Freunde“, wie die Bedürftigen respektvoll genannt werden. Weitere 1600 Personen werden allein in Trastevere in verschiedenen Einrichtungen mit demselben Menu verköstigt, in ganz Rom sind es knapp 10.000, die ein Weihnachtsessen erhalten! Dazu gehören auch die Häftlinge vom Stadtgefängnis Regina Coeli.

Der Platz in der Kirche ist nur begrenzt und folglich begehrt – nicht zuletzt wegen des festlichen Rahmens und der „Ehrenbesucher“. Jedes Jahr mit von der Partie ist Kardinal Roger Etchegaray, der als Botschafter schon so manche schwierige politische Mission von Sant’Egidio betreut hat und Koordinator des ökumenischen Friedenstreffen in Assisi ist. Weiter sieht man in den Reihen Bischof Vincenzo Paglia und Prof. Marco Impagliazzo, geistlicher Begleiter und Präsident der Gemeinschaft. Und dann natürlich den charismatischen Gründer von Sant’Egidio, Andrea Riccardi, der den gerade eingetroffenen Bürgermeister und die Präsidentin der Region Latium empfängt.

Der Besuch der Regierungsdelegation gehört mittlerweile zum festen Programm. Bürgermeister Gianni Alemanno dankt in einer Rede den Organisatoren für ihren ganzjährigen sozialen Einsatz in der Stadt. Der Publicity gegen das ausländerfeindliche Image des ehemals neofaschistischen Stadtpolitikers durchaus hilfreich – das Presseaufgebot vor Ort gilt fast ausschließlich ihm -, fördert sein Besuch gleichzeitig die Bekanntheit dieser genialen privaten Initiative. Die Politiker, die bisher kaum einen Finger gegen die soziale Not in Rom gerührt haben, verleihen der Aktion mit ihrer Präsenz Prestige und damit ist es leichter, Sponsoren zu finden. Die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Schwachen der Gesellschaft zu lenken, ist eben nicht einfach.

Hauptarbeit von Sant’Egidio abseits des Scheinwerferlichts

Der größte Teil der vielfältigen sozialen und politischen Tätigkeiten der 1968 im Geiste des Zweiten Vatikanums gegründeten Laiengemeinschaft läuft allerdings fern vom Presserummel ab.

Vor ungefähr 45 Jahren begann der aus angesehener Familie stammende Andrea Riccardi zusammen mit anderen Gymnasiasten, die armen Bewohner der Vorstädte mit Nahrung und Kleidung zu versorgen. Eine straffe Organisation und geschickte Mobilisierung von einflussreichen Persönlichkeiten in Wirtschaft und Politik und im Schutze des Vatikan konnte der private karitativer Dienst nicht nur zu einem weltweiten kapillaren Netz ausgebaut werden – die katholische Organisation zählt heute circa 50.000 Mitglieder und ist in 70 Ländern vertreten, Deutschland (Würzburg) eingeschlossen. Sie versucht immer häufiger an der Seite der italienischen Diplomatie in politische und ethnische Konflikte zugunsten von friedlichen Lösungen einzugreifen. So hat sie beispielsweise am Friedensabkommen in Mosambik entscheidend mitgewirkt. Ihr Spitzname „UN von Trastevere“ bekundet nicht nur, dass Sant’Egidio überall dort einschreitet, wo Not herrscht, sondern zeigt auch die politische Dimensionen ihrer internationalen Friedensmissionen. Der Gründer ist allein für seine Verdienste in Europa vergangenes Jahr mit dem renommierten Karlspreis ausgezeichnet worden.

„Der Hunger ist letztlich nur als eine Folgeerscheinung von Krieg und Ausbeutung“, schreibt Riccardi in seinem jüngsten Buch „Fare Pace“. Daher steht der Kampf für bedingungslosen Frieden an oberster Stelle und alle Projekte sind diesem Ziel untergeordnet: die Anprangerung von Gewalt und Todesstrafe, der Kampf gegen Aids, Integration von Minderheiten, Alphabetisierung und Förderung der Toleranz zwischen den verschiedenen Religionen und Kulturen. Sant’Egidio hat von Anfang an die Ökumene und den interreligiösen Dialog gefördert. Ihre Mitglieder sind fest von der Möglichkeit einer Freundschaft zwischen den Völkern überzeugt.

Das dies kein Traum, sondern greifbare Wirklichkeit sein kann, beweist das beeindruckende „Schauspiel“ in Santa Maria in Trastevere: 420 Menschen unterschiedlicher Nationen, Alter und Bildungsgrad, die fröhlich zusammen sitzen, plaudern, essen und trinken und sich frohe Weihnachten wünschen!