Quo vaditis bambini? Italien das EU-Schlusslicht in Staatsausgaben für Familien

ROM, 28. Oktober 2010 (ZENIT.org).- So kennt man sie: adrett herausgeputzt, verhätschelt und von allen geliebt. Die Rede ist von den italienischen „bambini“. Wo sonst, wenn nicht in Italien, kann man auch zur späten Stunde Kinder im Restaurant zwischen servierenden Kellner herumturnen lassen? Das Land, in dem die Kleinen stets willkommen zu sein scheinen! Die sprichwörtliche italienische Kinderliebe sollte jedoch nicht zu dem Trugschluss verleiten, dass diese sich auch in einer besonderen staatlichen Fürsorge kundtäte. Im Gegenteil. Der Staat betrachtet es keineswegs als seine Aufgabe, für den Nachwuchs im Lande Sorge zu tragen. Diese überlässt er großzügig den Familien selbst. Kinder sind in Italien ein privater Luxus!

Das war von jeher nicht anders. Nur dass in letzter Zeit vor allem Familien von der sich verschärfenden Wirtschaftskrise – laut italienischer Staatsbank liegt die Arbeitslosigkeit bei 11 Prozent – und dem Anstieg der Lebenskosten besonders hart betroffen sind. Für viele bedeutet „Kinderluxus“ einen Schritt in die Armut. Aber nicht nur der finanzielle Druck hat die Gemüter langsam empört. Ein Blick auf die Nachbarstaaten hat den Bürgern die Augen darüber geöffnet, dass Familienpolitik auch durchaus anders gehandhabt werden kann. Den entscheidenden Anstoß für eine öffentliche Debatte brachte eine im Mai vom Wirtschaftsministerium herausgegebenen Statistik (Relazione generale sulla situazione economica del Paese 2009), die das „kinderliebe“ Italien in einem beschämenden Licht in der EU darstellt: Italien rangiert, was den Staatsetat für Familie und Mutterschaft betrifft, auf dem hintersten Platz unter den reichen europäischen Industrienationen!

Im Land der geliebten Bambini

Wenn sich auch die aktuellsten Daten für einen europäischen Vergleich auf 2007 (Eurispes) beziehen, so hat sich in den letzten beiden Jahren die Situation im Lande eher verschlechtert als verbessert. Gemessen wurde der Anteil der Staatsausgaben für Familie und Mutterschaft am Bruttoinlandsprodukt. Und da steht Italien (zusammen mit Spanien und Portugal) mit seinen kläglichen 1,2 Prozent eindeutig hinter dem europäischen Mittel von 2,1 Prozent (Eurozone 15). Italien ist weit entfernt von den 3,7 Prozent in Dänemark, aber auch den deutschen 2,8 Prozent oder den 2,5 Prozent in Frankreich. In jenen Länder gibt der Staat zwei bis dreimal soviel für seine Familien aus.

Dass grundsätzlich ein Zusammenhang zwischen einer umfassenden staatlichen Familienpolitik und der Geburtenziffer besteht, belegen eindeutig die skandinavischen Länder. Diese scheuen nicht, in die zukünftigen Generationen mit gezielten Infrastrukturen und Maßnahmen zu investieren: Sie weisen die höchste Geburtenrate und das beste Bildungsniveau in Europa auf.

Die italienischen Regierungen der letzten beiden Jahrzehnte hingegen scheinen den entgegengesetzten Weg eingeschlagen zu haben. Im Staatshaushalt nimmt die Familie unter den Sozialausgaben mit 4,7 Prozent den letzten Posten ein, also nach dem für Altersversorgung, Sozialhilfe, Invalidität und Arbeitslosigkeit etc. Der europäische Durchschnittswert liegt indessen bei 8 Prozent.

Die italienische Familie als Kleinbetrieb

Die geringe Beachtung der Familie bei Verteilung der Staatsgelder mag in der tief verwurzelten katholischen Tradition des Landes begründet sein. Diese hat die Familie im Sinne eines autonomen Kleinbetriebs stets in den Mittelpunkt der Gesellschaft gestellt. Die „Sippe“ übernimmt wie ein Kleinstaat ein Großteil der Sozialaufgaben, die in Nord- und Mitteleuropa seit den 70er Jahren als Verpflichtungen der Gemeinschaft betrachtet werden. Dazu gehören die Altenpflege, Kinderbetreuung, Bafög und die finanzielle Unterstützung bei Arbeitslosigkeit, um nur die Wichtigsten aufzuzählen.

Dass die italienische Geburtenrate, die mit 1,41 prozent zwar zu den niedrigsten in Europa gehört, aber immer noch über der Deutschlands (1,33 Prozent) liegt, mag andererseits gerade dieser Tradition zu verdanken sein. Ohne das von der Kirche hochgehaltene christlichen Lebensmodell der Familie wäre der demographische Rückgang sicherlich noch markanter.

Wenn einst die belächelten italienischen Söhne aus Bequemlichkeit bis zur Hochzeit bei den Eltern wohnten, so ist es heute aus finanzieller Not. Die niedrigen Gehälter für Berufsanfänger, die prekäre Situation der befristeten Arbeitsverträge und zuletzt die enormen Immobilienpreise erschweren der jungen Generation das Stehen auf eigenen Beinen.

So ist heute mehr denn je der Familiengründung Steine in den Weg gelegt. Es beginnt mit dem nur zwölfmonatigen Mutterschaftsurlaub, der die Frauen zwingt, aus Angst vor Kündigung frühzeitig an den Arbeitsplatz zurückzukehren. Die dreijährigen Erziehungszeiten kennt man hier nicht. Meistens müssen die Frauen aus finanziellen Gründen sogar nach sechs Monaten ihre Arbeit wieder aufnehmen, da danach das Mutterschaftsgeld auf 60 Prozent bzw. 30 Prozent des Gehalts reduziert wird. Staatliche Krippenplätze sind national jedoch nur für knapp 12 Prozent der Kinder garantiert, wobei es ein starkes Gefälle zwischen Norden und Süden gibt. In der Tat ist gerade im armen Süditalien die Geburtenrate besonders gering, 1,1 Prozent in Sardinien gegenüber den 1,61 Prozent in Bozen, Südtirol. Die meisten Familien müssen also ihre Kleinsten bis zum 3. Lebensjahr in privaten Einrichtungen unterbringen, wenn die Großeltern nicht einspringen können. Das bedeutet eine Belastung von 500 bis 680 Euro für einen Ganztagesplatz, die nur zu 19 Prozent steuerlich absetzbar sind.

Nur 26,9 Prozent der beschäftigten Frauen kommen in den Genuss der familienfreundlichen Teilzeitbeschäftigung gegenüber dem europäischen Mittel von 36,7 Prozent; und nur ein Viertel der privaten und staatlichen Betriebe haben flexible Arbeitszeiten eingeführt. Das Bild gehetzter Mütter mit Kleinkindern im Schlepptau früh morgens auf dem Weg zur Kindertagesstätte und am Spätnachmittag wieder nach Hause gehört zum italienischen Alltag. In den Städten gilt es als absolut normal, auch Zweijährige bis 17 oder 18 Uhr im Hort zu lassen. Finanziell verschnaufen können die Eltern dann mit dem Eintritt des Nachwuchs in den kostenlosen öffentlichen Kindergarten und anschließend in die Grundschule, denn hier ist der Stundenplan der Arbeitssituation der Mütter angepasst. Mit den neuen Sparmaßnahmen der Mitte-Rechts-Regierung droht jedoch der Nachmittagsunterricht in den Grundschulen demnächst abgeschafft oder kostenpflichtig zu werden.

Zwar ist der Besuch der öffentlichen Schulen bislang ohne Schulgelder, doch haben die Eltern ab der 6. Klasse alle Lehrmittel zu tragen. Die Kosten allein für Schulbücher belaufen sich jährlich auf ca. 200€ pro Kind, zur Oberstufe hin sind die Kosten progressiv. Die Kommunen übernehmen die Ausgaben nur, wenn das Familienjahreseinkommen abzüglich Miete unter ca. 11.500 Euro Netto liegt (ISEE).

Hier genau liegt der Schwachpunkt in der italienischen Sozialgesetzgebung: Sozialhilfe wird nur bei extremer Armut gewährt (Jahreseinkommen unter 5.317 Euro pro Kopf, bei Ehepaar 10.635 Euro); die Sozialwohnungen decken nur etwa 25 Prozent der Nachfrage ab und eine Befreiung von der Einkommensteuer gibt es grundsätzlich nicht. So fallen genau die Familien der Mittelschicht durch die groben Maschen des Sozialnetzes.

Demselben Prinzip liegt die Berechnung des Kindergelds zugrunde. Es ist einkommensabhängig und wird nicht für jedes einzelne Kind, sondern als pauschales monatliches „Familiengeld“ bezahlt. Der volle Satz von 250 Euro steht nur Eltern mit einem Jahreseinkommen bis 11.422 Euro Netto zu, während es für darüber liegende Einkommen nach unten bis zu einem Minimum von 38 Euro gestaffelt ist. Mehr als die Hälfte der italienischen Familien verfügt zwischen 22.000 Euro und 27.000 Euro Nettojahresgehalt, empfängt jedoch vom Staat nur ungefähr 80 Euro als monatliche Unterstützung für die Kinder. Ausgeschlossen von jeglicher Zahlung wie steuerliche Vergünstigungen sind Familien mit einem Jahresgehalt von mehr als 43.962 Euro.

Wenn man außerdem bedenkt, das Mieten und Lebensmittel in Städten wie Rom und Mailand bis zu 30 Prozent teurer sind als in vergleichbaren Ballungsgebieten im deutschsprachigem Raum, kann man nachvollziehen, unter wie viel schwierigeren Bedingungen die italienischen Eltern ihre Kinder großziehen müssen. Sie sind finanziell auf sich selbst gestellt. Es darf daher nicht verwundern, wenn Familien mit drei und mehr Kindern eine Seltenheit geworden sind (5,1 Prozent).

Ganz zu schweigen von staatlicher Unterstützung für alleinerziehende Mütter oder für mittellose junge Paare. Dass die Italienerinnen zu den extrem Spätgebärenden in der EU gehören, kommt nicht von ungefähr. Familienplanung wird erst in Angriff genommen, wenn dem Nachwuchs ein Nest, wenn auch noch so bescheiden, garantiert werden kann.

Seit Jahren schon fordert die Kirche eine gerechtere Familienpolitik im Lande. Der Vorsitzende der italienischen Bischofskonferenz, Kardinal Angelo Bagnasco, hat zuletzt bei der 61. Vollversammlung im Mai vor dem „langsamen demografischen Selbstmord“ gewarnt und einen Appell an die Berlusconi-Regierung gerichtet, diesen durch spezielle Anti-Krisenpakete und eine familienorientierte Politik aufzuhalten.

Aber erst durch den stetigen Druck von kirchlichen wie nichtkirchlichen Verbänden und insbesondere von den mächtigen Gewerkschaften, die am 9. Oktober zu einer Großdemonstration in Rom aufriefen, scheint die Regierung zum Handeln gezwungen. Wirtschaftsminister Giulio Tremonti hat nun versprochen, noch diesen Monat im Rahmen der großen Debatte über die Steuerreform einen Plan zur Steuerentlastung für Familien auszuarbeiten.

Ob nun für diesen Zweck die Gelder innerhalb des Sozialhaushalts nur wieder hin und her verschoben werden oder gar eine tiefgreifende Umstrukturierung des Steuersystems zu Lasten der Besserverdienenden und der Singles angestrebt wird, ist noch nicht bekannt gegeben. Hoffen wir aber das Beste für die leidgeprüften italienischen Eltern.