Italien entschied angesichts der dramatischen Covid-19-Epidemie auf wirtschaftliche und individuelle Interessen zu verzichten, um die Generation der alten Eltern zu retten
Heute ist der 13. Tag der Ausgangssperre, der das Leben im Belpaese zum Stillstand gebracht hat. Die Luft ist kristallklar, man hört die Vögel zwischen den Häuserblocks trällern. Zum ersten Mal kann man bei offenem Fenster schlafen. Es zirkulieren kaum noch Autos. Rom wirkt wie in Watte gepackt, friedlich und verschlafen. Das wird den Einwohnern als positiv in Erinnerung bleiben nach der Epidemie, wenn krachende Motoren die Straßen wieder zurückerobert haben.
Von Tag zu Tag sind weniger Menschen unterwegs. Die Familie mit zwei Kleinkindern in meinem Palazzo habe ich schon seit dem 9. März nicht mehr draußen angetroffen. Man hört die Kleinen im Flur Dreirad fahren und zanken, die Eltern genervt dazwischenfahren. Aber sie lassen sie partout nicht vor die Tür, dabei haben wir einen schönen Innenhof. Den Garten hat vorsichtshalber der Verwalter verriegelt, „um Treffen der Hausbewohner“ zu vermeiden. Die meisten Anwohner verlassen das Haus nur für kurze Einkäufe. Schwätzchen mit Nachbarn finden nur noch von Fenster zu Fenster statt.
Italien auf dem Weg von Wuhan
Seitdem die Öffnungszeiten der Supermärkte am Sonntag gekürzt wurden, haben sich die Schlangen vor den Geschäften verdoppelt. Nahrungsbeschaffung ist die einzige Beschäftigung, die den Italienern geblieben ist. Der Zutritt in die Läden wird streng kontingiert. Man wartet draußen. Heute musste ich 40 Minuten vor dem Supermarkt anstehen. In der ersten Woche der Ausgangssperre konnte man noch in der Mittagszeit bequem die Schlangen umgehen. Nun gibt es sie rund um die Uhr.
Der Staat hat mit dem Schraubstock der Freiheit des Einzelnen immer mehr die Luft abgedrückt. Es war ein kontinuierlicher lockdown. Nach der Schließung der Schulen und Universitäten am 5. März ging alles Schlag auf Schlag. Es folgte die Schließung der Museen und Fitnessstudios, der Einkaufscenter und schließlich aller Geschäfte, die nicht lebensnotwendige Dienstleistungen und Artikel bieten. Lombardei und Venetien wurden zur „roten Zone“ erklärt und Quarantänepflicht eingeführt. Am 11. März dehnte Premierminister Giuseppe Conte die rote Zone auf das ganze Land aus. Flug- und Bahnlinien wurden weitgehend eingestellt und die Leute zum smart working nachhause geschickt. Anfangs durfte man noch einzeln Sport in den Parks treiben. Obwohl in der freien Natur die Ansteckungsgefahr sicherlich verschwindend gering ist, hat man nun auch Parks und Strände gesperrt. Bewegung ist nur noch innerhalb des eigenen Wohnviertels (rione) in einem Umkreis von 200 Metern gestattet.
Für die lebenslustigen Hauptstädter stellen die Einschränkung einen harten Einschnitt in den Alltag dar, der gewöhnlich von sozialen Kontakten und Mobilität geprägt ist. Zum Zeitpunkt der ersten Verordnungen hatte Rom nur eine Handvoll von Infizierten. Die Römer fühlten sich weit entfernt von der dramatischen Situation in Norditalien, von dem man nur aus der Presse erfuhr.
Italiener sehen in den Beschränkungen die einzige Lösung
Dennoch habe ich kaum ein Wort der Kritik bezüglich der drastischen Maßnahmen vernommen. Selbst die sonst für ihre Undiszipliniertheit bekannten Römer nehmen die Verordnungen geduldig entgegen. Die Gesundheit der Nation geht vor der Freiheit des Einzelnen und den wirtschaftlichen Interessen. Man ist sich einig, dass die Maßnahmen notwendig sind, um die Epidemie aufzuhalten. Das hätten China und Südkorea gezeigt. Die Leute achten von allein auf die vorgeschriebene Distanz. Wer ohne Mundschutz und Handschuhe einkaufen geht, wird beäugt wie ein Nackter am muslimischen Badestrand. Manche plädieren sogar für noch härtere Schritte. Sie fordern die Lebensmittelgeschäfte zu schließen und die Personen unter Quarantäne mit Apps zu überwachen.
Demokratie mal eben ausgeschaltet
Das Polizeiaufgebot ist beeindruckend. Polizeiwagen und neuerdings Militär patrouillieren in den verwaisten Parks und auf den Straßen. Bisher wurden in ganz Italien 82.000 Anzeigen erstattet wegen Verletzung der Ausgangssperre. Die Gesetzesbrecher werden in der Presse als „undiszipliniert und egoistisch“ gescholten. Dabei handelt es sich meistens um Banalitäten, die nicht die Gesundheit anderer kompromittieren: Einkäufe außerhalb des erlaubten Radius, ein Spaziergang der Mutter mit ihren Kindern durch den Park, verbotenes Sitzen auf der Parkbank. Feste und Picknicks feiern hierzulande schon lange keiner mehr. Wer nicht zu Arbeit oder Einkaufen geht, den Hund ausführt oder joggt, den erwartet ein Bußgeld von mindestens 200 € und einen Eintrag ins Strafregister. Bei Falschangaben drohen bis zu zwei Jahren Gefängnis.
Während Deutschland darüber debattiert, ob und inwieweit der Staat überhaupt in die Freiheit seiner Bürger eingreifen darf, nehmen die Italiener die verordnete Kollektivisolation wie einsichtige Kinder an. Niemand stellt diese in Frage. Und die restliche Welt beobachtet, wie ein demokratischer Staat mit der bedrohlichen Epidemie umgeht. Wird Italien ein Modell zum Nachmachen? Das Handelsblatt warnt vor den Folgen des gestern verhängten Stops von weiteren Produktionszweigen. Es könne Jahre dauern, bis die Wirtschaft wieder in Gang komme.
Wachsende Solidarität und Schutz der Alten
Vergangenes Wochenende wurde mit über 1400 Toten ein neuer Boom der Mortalität verzeichnet. Die meisten Opfer beklagt die norditalienische Lombardei mit den Brutstätten Brescia, Bergamo und Cremona. Die vielen Tote schaffen betroffene Solidarität im ganzen Land. Auf den Aufruf der Regierung nach 300 freiwilligen Ärzten und Pfleger meldeten sich spontan knapp 8000 Fachkräfte jeden Alters.
Das Durchschnittsalter der an Covid-19 Verstorbenen beträgt in Italien 78,5 Jahre. Deutsche und Engländer witzelten darüber in den sozialen Medien: so könne sich der Staat von der teuren und nicht mehr produktiven Generation befreien. In Italien hat die Bedrohung dazu geführt, dass die Familien einen schützenden Ring um ihre älteren oder kranken Angehörigen gebildet haben. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit verwandeln sich die Familien in Kleinfirmen, die besser funktionieren als so mancher Staatsbetrieb. Sie regeln die gesamte Versorgung der Schutzbedürftigen. Oft wurden die Pfleger und Haushaltshilfen weggeschickt, die man schlecht kontrollieren kann. Online-Bestellungen bei Supermärkten laufen heiß, die Auslieferung an Senioren, Kranke und Behinderte wurde Vorrang gegeben. Ein Problem entsteht, wenn ganze Familien unter Quarantäne gestellt werden. Hier springen Freiwillige von der staatlichen Hilfsorganisation ANPAS oder der Pfarrgemeinde ein.
Staatspräsident Sergio Mattarella stellte richtig fest, dass die alte Generation der Pilaster der italienischen Gesellschaft sei. Sie unterstützt finanziell die Jungen, hütet die Enkelkinder, nehmen Geschiedene und Arbeitslose aus der Familie auf und hilft beim Wohnungskauf. Ohne sie sei Italien nicht nur menschlich um einiges ärmer.