Purim unter Beschuss

Neue palästinensische Gewaltwelle im Gazastreifen gegen israelische Grenzstädte

Im Kinderheim Neve Hanna fällt dieses Jahr Purim aus. Die achtzig Kinder sind mächtig enttäuscht, ihre selbstgenähten kunterbunten Kostüme nicht vorführen zu dürfen. Purim ist eine Art ausgelassener jüdischer Karneval, der Höhepunkt im Festkalender der Jüngsten. Stattdessen sitzen sie in Schutzräumen oder dürfen nur in nächster Reichweite zu diesen spielen, immer in Halbachtstellung. Großveranstaltungen im israelischen Süden sind zurzeit untersagt. Befehl des Zivilschutzes. Im Süden Israels steht das Leben still.

Verkleidete Kinder für die Purim-Parade Foto:timesofisraele.com
Verkleidete Kinder für die Purim-Parade Foto:timesofisraele.com

 

Am Mittwochnachmittag schrillte plötzlich Alarm und wenig später erging eine Salve von Qassam-Raketen aus dem Gazastreifen, die von palästinensischen Extremisten abgefeuert wurden. Noch am Donnerstagvormittag wiederholte sich das Spektakel mit mindestens siebzehn Geschossen, zu dem Zeitpunkt, an dem eigentlich die Purimspiele hätten stattfinden sollen. Die Bewohner der an Gaza angrenzenden Kibbuzim und Moschawim, der Gemeinden Sderot, Netiwot sowie der Städte Aschdod und Aschkelon hatten nur 15 Sekunden Zeit, ihre Schutzräume zu erreichen, wo sie schließlich die Nacht verbrachten. Den Kindern des Kinderheims Neve Hanna, das in dem 20 km landeinwärts gelegenen Ort Kiryat Gat liegt, bleiben immerhin ganze 30-45 Sekunden Zeit sich in Sicherheit zu bringen. Aber das tröstet die Kinder kaum, sie fühlen sich dennoch bedroht.

 

Rauchpilz über Rafah nach einem israelischen Luftangriff Foto: Israelheute
Rauchpilz über Rafah nach einem israelischen Luftangriff Foto: Israelheute

Von den insgesamt siebzig abgefeuerten Raketen sind einundvierzig in israelisches Gebiet eingeschlagen. Der Raketenschirm „Eiserne Kuppel“ konnte drei Geschosse in der Luft neutralisieren, die vom System als potenziell gefährlich eingestuft wurden. Auch wenn die selbstgebastelten palästinensischen Boden-Boden-Raketen vom Typ Qassam ohne Leitsystem sind und nur geringe Sprengkraft besitzen, können sie auf Häuser und Autos fallen und großen Schaden anrichten – abgesehen von der Gefahr, durch gesprengte Trümmer und Glas zu verletzen. Die mit Metallplatten verstärkten Schutzräume, die sich in jedem Wohnhaus und öffentlichen Gebäude befinden, haben bisher die Opferzahlen unter den Israelis sehr gering gehalten. Bei dem jetzigen Angriff sei nur eine Frau auf dem Weg in den Bunker leicht verletzt worden. Doch bricht bei jedem Alarm Panik unter denjenigen aus, die sich im Freien befinden und natürlich auch in Gebäuden mit Kindern. Die Lehrer müssen sich beeilen, alle ihre Schützlinge so schnell wie möglich in die Schutzräume zu treiben.

 “Da die pausenlosen Einschläge auch noch in großer Entfernung zu hören waren, gab es unter den Kindern nicht wenig Aufregung”, erzählt Antje Naujocks, zuständig für Öffentlichkeitsarbeit des von einem deutschen Förderverein unterstützten Kinderheims Neve Hanna. Sie lebt seit dreißig Jahren in Israel und hat beide Intifadas erlebt. Trotz Ablenkung mithilfe von Liedern und Spielen seien viele Kinder traumatisiert, schliefen unruhig und litten unter Angstzuständen. “Wir sind, seitdem die Hamas 2006 die Regierung im Gazastreifen übernommen hat, gut im Training“, meint Frau Naujocks ironisch und erinnert an die über 1600 Raketen, die allein 2012 auf die Region abgefeuert wurden. Nach der israelischen Großoffensive im November 2012 war es aber ruhig geworden. Nun plötzlich ein erneutes Aufflammen des Bombenterrors.

Palästinensischer Machtkampf in Gaza

Zu den Angriffen auf Israel bekannte sich die palästinensische Terrorgruppe „Islamischer Dschihad“. Diese seien eine Vergeltung für die Tötung von drei ihrer Kämpfer bei Chan Junis am Vortag durch eine israelische Rakete, sagte der Sprecher Abu Ahmed. Israel antwortete unmittelbar mit dem Beschuss des Gazastreifens durch die Luftwaffe. Anschließend ließ sich die Terrorgruppe auf einen von Ägypten vermittelten Waffenstillstand ein. Dieser wurde jedoch am Donnerstag gebrochen, denn es wurden danach noch weitere siebzehn Raketen auf israelische Wohngebiete in der Grenzregion abgeschossen. Die israelische Luftwaffe griff daraufhin in der Nacht zum Freitag erneut Terrorstellungen im Gazastreifen an. Diese insgesamt 29 Einsätze waren aber so angelegt, dass keine Palästinenser getötet wurden, gab die Armee bekannt. Sie nahmen nach eigenen Angaben unbemannte Abschussrampen und Waffenlagerräume ins Visier. Die Luftwaffe möchte mit ihrer defensiven Taktik offenbar verhindern, dass die Lage weiter eskaliert. Das allgemeine Problem bei derartigen Operationen, so gezielt sie auch sein mögen, ist jedoch, dass die Verletzung oder Tötung von Zivilisten nie ganz auszuschließen sind. Die palästinensischen Abschussrampen sind nämlich inmitten der dicht besiedelten Wohngebiete platziert. Bunker sind allenfalls für die Terrormiliz vorhanden, nicht aber für die Zivilbevölkerung. Dies gehört zur Taktik der terroristischen Organisationen.

Der Islamische Dschihad ist eine bisher nur kleine, aus wenig Hundert Mann bestehende Terrorgruppe in Gaza ohne greifbare militärischer Infrastruktur. Seit einiger Zeit macht sie der regierenden Hamas die Vormacht streitig. Die Hamas ist seit dem gesetzlichen Verbot der Muslimbruderschaft in Ägypten finanziell und politisch geschwächt. Hingegen erhält der Islamische Dschihad durch den Iran Rückhalt, eine Vermutung, die zuletzt durch die erst vor zwei Wochen abgefangene Waffenlieferung auf einem iranischen Schiff im Roten Meer bestätigt wurde. Wahrscheinlich fanden die persönlichen Vergeltungsschläge des Islamischen Dschihad mit Billigung der Hamas statt, die keinen internen Kampf in den Autonomiegebieten riskieren möchte.

Wenig Hoffnung auf Konfliktlösung

Der Handlungsspielraum der Israelis ist beschränkt: Sie können derzeit den Islamischen Dschihad nicht gezielt zerschlagen, noch wäre es klug, die in Gaza noch dominierende Hamas für die Angriffe verantwortlich zu machen. Es würde die Hamas zusätzlich schwächen und den noch aggressiveren islamistischen Terrorzellen Auftrieb geben oder gar zu einer Anarchie unter den 1,7 Millionen Palästinensern im Gazastreifen führen. Diese Befürchtungen der Armeeführung wurden in der Sondersitzung laut, die Ministerpräsident Benjamin Netanjahu letzten Donnerstag einberief. Der Vorschlag von Außenminister Avigdor Lieberman, den Gazastreifen erneut zu besetzen, wurde von der Mehrheit der Parlamentarier abgelehnt. Eine Lösung des Problems ist nicht in Sicht. 

Derweil stellen sich die ungefähr 700.000 Israelis im Süden des Landes, die primäre Zielscheibe der palästinensischen Raketenangriffe, auf unruhige Zeiten ein. Dass der klimatisch und an Sicherheit wenig attraktive Landesteil in der Negev-Wüste dennoch weiterhin Zuzug von Israelis aus den überfüllten und überteuerten Großstädten Tel Aviv und Jerusalem bekommt, hat vor allem finanzielle Gründe. In Beer Sheva, der mit 200.000 Einwohnern größten Stadt im Negev, sind die Wohnungen noch bezahlbar. Viele Ausweichmöglichkeiten bietet der winzige Staat nicht. Die 49jährige Antje Naujocks hat hier ihre Zelte aufgeschlagen und plant sogar, ihr Alter hier zu verbringen. Sie will bei „ihren Kindern“ in Neve Hanna bleiben. Auf die Frage nach der Zukunft der Region zwingt sie sich zu Optimismus. Es ist ein Optimismus, den man häufig in der israelisch-jüdischen Gesellschaft antrifft, die sich von einer immer feindlicheren arabischen Welt umzingelt sieht. Über die lächelnden Lippen vernimmt man zuversichtliche Worte, aber ein Auge behält stets den Koffer im Blick: „Uns bleibt nichts anderes übrig, als positiv zu denken. Denn sonst könnten wir den Laden hier gleich dicht machen!“