Rettungsanker Große Koalition

(zenit.org/explizit.net) Rom.-  Italien ist ein Paradox. Dass aus dieser seit zwei Monate andauernden Regierungskrise noch etwas Fruchtbares erwachsen könnte, damit hatte auch hierzulande niemand mehr ernsthaft gerechnet. Das nach den Februarwahlen entstandene politische Patt schien letzte Woche noch ohne Ausweg. Es drohten Neuwahlen.

Nun hat am Samstagabend der mit der Regierungsbildung beauftragte Vizechef der Demokratischen Partei, Enrico Letta, doch überraschend ein Kabinett aus den verschiedenen politischen Kräften auf die Beine gestellt. Dazu eines, das eine Portion Innovation enthält.

Die größte Überraschung war, dass die Garde der alten Parteibonzen bei der Auswahl der Minister übersprungen wurde. Es handelt sich bei den am Sonntag vereidigten 21 Ministern vorwiegend um Neulinge auf der politischen Bühne, die jedoch einen für ihr zukünftiges Aufgabenfeld spezifischen Erfahrungsschatz mitbringen. Die Landespresse bejubelte sofort den überfälligen Generationswechsel. So wurden beispielsweise die Universitätsrektorin Maria Chiara Carrozza Bildungsministerin und die deutschstämmige Olympiasiegerin Josefa Idem Ministerin für Sport, Jugend und Gleichberechtigung. Als besonders mutiger Schritt wird die Ernennung der ersten Farbigen zur Minister für Integration aufgenommen. Die Kongolesin Cécile Kyenge soll die durch die Lega Partei ins Hinterstübchen gerückte italienische Integrationspolitik den mitteleuropäischen Standards anpassen. Im Raum steht die Einbürgerung der im Lande geborenen Kinder der über 5 Millionen Gastarbeiter.

Ministerpräsident Enrico Letta Foto: giornalettismo.it
Ministerpräsident Enrico Letta Foto: giornalettismo.it

Verjüngungskur und hohe Frauenquote

Daneben schlägt Letta gleich zwei weitere Rekorde: Mit einem Durchschnittsalter von 53 Jahren ist es die jüngste Regierung Italiens und mit ihren sieben Ministerinnen, das heißt einem Drittel, weist diese die bisher höchste Frauenrate auf. Darüber mögen die skandinavischen Länder spotten, aber im gerontokratischen Italien ist es ein bedeutender Schritt in Richtung Modernisierung. Die Parteien haben zwar mittlerweile viel jungen Nachwuchs. Dennoch ist der Weg zur Schaltzentrale lang, insbesondere für Frauen. Zwei Frauen im Kabinett rückten sogar auf Schlüsselpositionen vor: Annamaria Cancelleri aus dem vormaligen Technokratenkabinett Mario Montis wird Justizministerin und die ehemalige EU-Kommissarin Emma Bonino Außenministerin. Zusammen mit einem weiteren Monti-Mann, Enzo Moavero Milanesi, als Minister für Europäische Angelegenheiten ist eine Fortsetzung des von Monti eingeschlagenen Kurses der politischen Integration Italiens in Europa garantiert. Das ist kein unerhebliches Detail. Denn mit der Fünfsternebewegung Beppe Grillos, die 25 Prozent der Stimmen bei den Februarwahlen gewannen, ist eine europafeindliche Partei ins Parlament eingezogen. Sie gibt dem Spardiktat Angela Merkels die Schuld an der Verschlechterung der italienischen Wirtschaftslage und fordert den Austritt aus dem Euro.

 

Erste Große Koalition der Nachkriegszeit

 

Letta präsentierte sein Kabinett als eine Regierung des „breiten Konsens“. Er betonte, sie sei keine technokratische, sondern eine politisch-parlamentarische Regierung. Sie stellt sich aus Vertreter der drei an der Regierung beteiligten Parteien zusammen. Nur drei Minister sind Fachleute ohne Parteizugehörigkeit. Neun Minister stammen aus dem Pd, fünf aus dem PdL, drei aus Montis „Bürgerwahl“ (Selta civica) und einer aus der laizistischen Partei der Radikalen. Mit drei Ministern ist Montis Zentrumspartei überproportional vertreten in der neuen Regierung, denn sie hatte im Februar nur 10 Prozent der Stimmen einkassiert. Die Kleinparteien am äußersten Rande, die Lega Nord und die Linke von Nichi Vendola (Sel) gingen leer aus. Beide haben schon angekündigt, in die Opposition zu gehen.

 

In einem Punkt sind sich die Kommentatoren einig: Der 46 Jahre junge Premier Enrico Letta hat mit dem Arrangieren der Zwangsehe zwischen der Mitte-rechts-Partei Berlusconis (Pdl) und den linksliberalen Demokraten ein wahres Kunststück vollbracht. Zu einer großen Koalition zwang das Wahlergebnis, das drei nahezu gleich starke Blöcke hervorbrachte. Grillos Partei lehnt Bündnisse mit den etablierten Parteien kategorisch ab. Daher war eine Annäherung der beiden bis auf den Tod verfeindeten Pd und PdL die einzige Lösung. Doch ist daran sein Vorgänger, der Parteivorsitzende Pierluigi Bersani, kläglich gescheitert. Er trat am 20. April zurück, nachdem sich sein Kontrollverlust in der eigenen zerstrittenen Partei klar abzeichnete. So wurde der Weg frei für die gemäßigte Strömung innerhalb des Pd, die zu Kompromissen mit Berlusconi und seinen Parteileuten bereit war. Der Quadratur des Kreises gleich kam die Aufgabe der Platzierung des machthungrigen Berlusconi. Er verlangte nämlich ein Ministerium.

 

Und hier erstaunte der als farblose Figur geltende Enrico Letta alle Beteiligten. Das fehlende Charisma kompensierte er ausreichend mit einer geschickten wie klugen Strategie bei den zweitägigen Unterhandlungen: es sind fraglos Eigenschaften, die in dieser heiklen Situation im Vordergrund stehen. Letta schaffte es tatsächlich, den Kelch mit einem erneuten Minister Berlusconi am Land vorbei ziehen zu lassen – und zwar mit der Begründung, den Platz für neue Generationen freizumachen. Der vierfache frühere Ministerpräsident, Jahrgang 1936, geht stramm auf die 80 zu, wenn auch seine Energie und Entschlossenheit kaum gealtert sind. Mit diesem taktischen Zug würden sie ihrem gemeinsamen Gegner, die Protestbewegung Grillos, den Wind aus den Segeln nehmen, die gerade wegen der Forderung eines kompletten Generationswechsels in der Politik so viel Wählerzulauf bekamen. Berlusconi musste einlenken. Letta ging mit gutem Beispiel voran und hat die Mächtigen seiner eigenen Partei, wie Ex-Premier Massimo D’Alema, nicht an der Regierung beteiligt. Allerdings zahlte Letta für den Ausschluss Berlusconi einen hohen Preis: er musste Parteisekretär Angelino Alfano zum Innenminister und zu seinem Vize küren. Alfano gilt als „Pudel“ des Parteigründers Berlusconis, als sein verlängerter Arm.

 

Im Rampenlicht steht natürlich die Besetzung des Finanz- und Arbeitsministeriums. Auch hier verfuhr Letta weise und wählte dem Pd nahestehende Finanzexperten von internationalem Ansehen, die die von der Troika vorgegebenen Sanierung des Staatshaushaltes weiterhin im Auge behalten werden. Der Generaldirektor der italienischen Notenbank, Fabrizio Saccomanni, ist der neue Wirtschaftsminister, während der Präsident des staatlichen Statistikinstituts, Enrico Giovannini, das Ministerium für Arbeit und Soziales leiten wird. Giovannini war schon vor kurzem von Staatspräsidenten Giorgio Napolitano in den “Rat der Weisen” berufen worden, die Auswege aus der politischen Starre erarbeiten sollten. Saccomanni, der mit der Unterstützung des EZB-Chefs Mario Draghi rechnen kann, hat bereits angekündigt, dass er sich ganz der „Ankurbelung der Wirtschaft widmen will“.

Als Hoffnungsschimmer für die von Steuerlast gedrückten Bürger und Unternehmer wurde seine gestrige Ankündigung der „Steuersenkung“, beziehungsweise einer „neuen Steuerprogression zur Entlastung der niedrigen Einkommen“ aufgenommen. Im Gegensatz zu Montis rigidem Sparkurs und dem Festhalten am bestehenden Steuersystem ist Saccomanni scheinbar sensibler gegenüber der immer größer werdenden sozialen Problematik. Aber es geht auch darum, neue Rezepturen zu entwickeln, um die Kaufkraft wieder anzuleiern – allerdings ohne Neuverschuldung. „Die Banken, Unternehmer und Verbraucher müssen sich in einem Pakt zusammenschließen, um gemeinsam den psychologischen Unsicherheitsfaktor zu überwinden, der dazu geführt hat, dass weder investiert wird, noch Kredite bewilligt oder konsumiert wird“, so Saccomanni.

 

Italien aus der schweren Krise zu führen, wird nicht leicht sein. Als dringlichstes Problem steht die sofortige Bereitstellung von Arbeitslosengeld für eine halbe Million neuer Arbeitsloser. Italien hat bisher kein ordentliches Versorgungssystem für Langzeitarbeitslose. Für Juli war von dem ehemaligen Premier Monti die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 21 auf 22 Prozent geplant, um ein weiteres Sparmanöver zu finanzieren. Das bedeutet einen weiteren Schlag für die ohnehin angeschlagene Volkswirtschaft. Heißestes Thema bleibt die Abschaffung der verhassten Grundsteuer für die Erstwohnung (IMU), die Berlusconi seinen Wählern versprochen hat und nun von Letta einfordert. Dann entstünde jedoch ein Loch von 4 Milliarden Euro, die anderweitig aufgetrieben werden müssten. Die Demokraten optieren nicht für eine allgemeine Abschaffung der Immobiliensteuer, sondern nur für eine Befreiung für Einkommensschwache. Um in dieser delikaten Phase des Aufbruchs unnötige Spannungen zu verhindern, kündigte Letta gestern die vorläufige Aufhebung der Zahlungsfrist im kommenden Juni an. Es müsse erst ein neues Berechnungssystem für die Ermittlung der Grundsteuer erstellt werden.

 

Ob die erzwungene „Große Koalition“ Bestand hat oder in Kürze-  wohlmöglich an der IMU-Frage – wieder auseinander brechen wird, kann niemand im Moment voraussagen. Die kurzfristige Dynamik der italienischen Politik ist in diesen Zeiten des Umbruchs nicht absehbar. Der Wahlerfolg der Protestbewegung Grillos ist deutlichstes Zeichen dafür, dass ein altes System dabei ist sich aufzulösen. Allerdings haben sich neue politische Formationen noch nicht herausgebildet, ein klares Profil ist noch nicht erkennbar. Beide großen etablierten Parteien durchlaufen eine interne Krise. Der Demokratischen Partei Lettas droht sogar wegen des „historischen Kompromisses“ eine Spaltung.

Großen Druck auf die Koalition übt verständlicherweise der fast 88jährige Napolitano aus, der seinen verdienten Ruhestand geopfert hat, um dem egozentrischen Politkindergarten noch einmal mit einer weiteren Amtsperiode aus der Patsche zu helfen. Seine führende Hand ist auch bei der Zusammenstellung der Regierung zu spüren. Er forderte die Parteien auf, angesichts der dramatischen Krise die Rivalitäten und ideologische Prinzipien zurückzustellen und gemeinsam für das Wohl der Nation zu arbeiten. Ähnliche Worte gebrauchte mehrfach Angelo Kardinal Bagnasco, der Vorsitzende der italienischen Bischofskonferenz. „Die Leute können nicht mehr“, sagte er noch Mitte April während einer Messe vor Bauarbeitern in Genua. „Die politische Führungsschicht soll endlich Verantwortung übernehmen und nicht nur an ihre eigenen Pfründe denken.“ Als am Sonntag während der feierlichen Vereidigung der neuen Regierung ein arbeitsloser, durchgedrehter Familienvater aus Kalabrien zwei Carabinieri vor dem Regierungsgebäude mitten im Zentrum Roms anschoss und einen davon lebensgefährlich verletzte, trübte es deutlich den Enthusiasmus des großen Tages. Innenminister Alfano beschwichtigte zwar sofort in einem Kommuniqué, dass es sich um eine isolierte Tat handele und die öffentliche Sicherheit nicht in Gefahr sei. Doch gestand der Täter kurz darauf, er hätte eigentlich „die Politiker“ und nicht die Militärwache im Visier gehabt.

Die Presse wertete die Episode als Messlatte der Volksstimmung in Italien, als Zeichen der höchsten sozialen Spannungen aufgrund der sich ausweitenden Arbeitslosigkeit. Es ist zweifellos ein Warnschuss gegen die verantwortliche Führungsschicht. Hoffen wir, dass die Parteien diesen verstanden haben.