Vor 140 Jahren Auflösung des Kirchenstaates

ROM, 20. September 2010 (ZENIT.org).- Fanfarenbläser, Tricolore und jede Menge Popkorn. Dem 20. September wird alljährlich als Tag der Einnahme Roms durch die königlichen Truppen und damit der Geburt Roms als Hauptstadt Italiens gedacht. Doch dieses Jahr haben Staat und die römische Stadtverwaltung richtig tief in die Tasche gegriffen: Der runde Geburtstag, nämlich der 140. Jahrestag der Ereignisse, hat Anlass gegeben, den seit langem beklagten Mangel an Staatsbewusstsein und Patriotismus aufzupolieren.

Dafür sorgten nun ein dreitägiges Straßenfest samt Nachstellung des Einmarschs der Bersaglieri durch die Porta Pia: für die Kleinen Popkorn, Luftballon in den Landesfarben und Puppenspiel und für die Großen Konzerte, Ausstellungen und Video- Performance mit Feuerwerk. Neben diesen Spektakeln versucht man auch ernsthaft mit Podiumsdiskussionen und wissenschaftlichen Symposia die historische Bedeutung des Risorgimento, der Vereinigungbewegung im 19. Jahrhundert, vor allem an die jüngere Generation weiterzuvermitteln.

Keine einfache Angelegenheit, die jetzige Bevölkerung für die Einheit Italiens zu begeistern. Schließlich sind mindestens fünf Generationen ins Land gezogen seitdem die Einheit Italiens mit der Annexion des ehemaligen Kirchenstaats an die italienische Monarchie ihren Abschluss fand. Seit mindestens zwei Jahrzehnten ist der einstige Stolz auf die Staatsgründung einer gewissen Skepsis gegenüber dem zu zahlenden Preis für die Einheit Italiens gewichen. Populistisches Sprachrohr für den steigenden Unmut der Norditaliener über das nicht gelöste Problem des krassen Sozial- und Wirtschaftsgefälles ist seit Anfang der 90ziger Jahre die Lega Nord, mittlerweile drittgrößte Partei Italiens und treuer Bündnispartner Berlusconis. Aber es sind auch die über Jahrhunderte gewachsenen Unterschiede in Kultur und Mentalität, die den dicht besiedelten, industrialisierten Norden von den armen süditalienischen Regionen Kampanien, Kalabrien und Sizilien trennen. Dem Norditaliener ist der Süditaliener fremd geblieben. Am liebsten würde sich die separatistische Lega von seinem Sorgenkind trennen. Da dies nicht möglich ist, drängen sie zumindest auf einen Steuerföderalismus, damit die im Norden erwirtschafteten Reichtümer auch in der eigenen Region bleiben. Dem Süden droht also durch weitere Verarmung, komplett den Anschluss an das restliche Italien zu verlieren.

Porta Pia, Rom. Quelle Wikipedia

Als vor 140 Jahren am 20. September 1870 die piemontesischen Bersaglieri gewaltsam über eine Bresche in der Stadtmauer in die Ewige Stadt eindrangen, war dies ein schwerer Schlag für den Papst und die Kirche. Dass das über 1000 Jahre währende Patrimonium Petri ein unfreiwilliges Ende finden sollte, hat Pius IX. nie akzeptieren können. Obwohl die neue Regierung dem Papst und seinem diplomatischen Chor in den „Legge delle Guarentigie“Immunität und dem Vatikanischen Palast Exterritorialität zugestand, erkannte er dies als unilateral nicht an. Vielmehr forderte Pius IX. mit dem Dekret „Non expedit“ die Katholiken auf, nicht am politischen Leben der neuen Monarchie teilzunehmen. Bis zu seinem Tode 1878 bezeichnete er sich als „Gefangener“ und führte ein zurückgezogenes Leben.

Es mussten 59 Jahre verstreichen bis mit den Lateranverträgen 1929 die Römische Frage, der Status des Vatikans geklärt werden konnte: Das Ergebnis war die Neugründung des Kirchenstaates im verkleinerten Maßstab, der heutige Vatikanstaat. Somit sollte sich doch noch nach 500 langen Jahren die Vision der heiligen Birgitta von Schweden erfüllen. Sie prophezeite nämlich, dass erst eine Reduzierung der Staatsgewalt des Papstes auf die Mauern des Apostolischen Palastes ihm erlauben würden, zu seinen eigentlichen Aufgaben als Oberhirte zurückzukehren. In der Tat konnte sich damals das Papsttum von dem schweren Ballast der weltlichen Herrschaft befreien. Über diese Entwicklung der Geschichte ist man heutzutage im Vatikan sicherlich nicht mehr betrübt. Vielmehr sind es seit Jahren Papst und Kirche, die auf die Wichtigkeit des Zusammenhalts der Nation hinweisen und an die wohlhabenden Bürger appellieren, nicht die Mitbrüder im ärmeren Landesteilen zu vergessen.

Heute morgen war bei der feierlichen Kranzniederlegung vor der Porta Pia zum ersten Mal auch ein Vertreter des Vatikanstaats anwesend. Staatssekretär Kardinal Bertone betonte in einer kurzen Ansprache, dass seine Präsenz bei diesem Ereignis die Anerkennung der unbestreitbaren Tatsache (Wahrheit) demonstriere, dass Rom Hauptstadt Italiens sei. „Heute gibt es eine wieder gefundene Eintracht zwischen Zivil- und Kirchengemeinschaft, die gemeinsam und weitreichend für das Wohl des italienischen Volkes arbeiten.“

Dass heute ausgerechnet der Vatikan die Richtigkeit der italienischen Staatsgründung betont, mag Ironie des Schicksals sein. Sie sind keineswegs als verspätete offizielle Absegnung des Risorgimento zu werten. Vielmehr bekommen die Worte Bertones vor dem Hintergrund des schwindenden Vertrauen der Bevölkerung in seinen Staat und den separatistischen Strömungen im Norden des Landes besonderen Nachdruck. Man bedenke, dass in Italien die Kirche immer noch eine wichtige moralische Instanz darstellt. Der Auftritt des Kardinals gleicht fast einem Rettungsversuch an der Seite des 85jährigen Staatspräsidenten Giorgio Napoletano, der seit Jahren mit seinen unermüdlichen Appellen an das Staatsbewußtsein der Bürger darum kämpft, Land und Leute zusammenzuhalten.