Der Olivenbaum: Tradition mit tiefen Wurzeln

ROM, 13. November 2009 (ZENIT.org).- Während sich die Völker nördlich der Alpen langsam auf die Adventszeit mit Weihnachtsbäckerei und –Dekoration einstimmen, denkt hier im mediterranen Rom noch keiner an das Christfest.

Vielmehr verbinden die Menschen im Süden diese Jahreszeit mit einem ganz anderen Ereignis, und das seit mindestens 2500 Jahren. Denn im November reifen die Oliven und es gilt nun, die Früchte in das kostbare flüssige Gold, wie es Homer nannte, zu verwandeln, das heißt die Oliven zu ernten und zu Öl zu pressen. Alljährlich ein großes, Familien einnehmendes Ereignis, ist doch der Ölbaum die wichtigste und am häufigsten angebaute Kulturpflanze in Latium und fordert die Ernte höchsten Arbeitseinsatz.

Wenn sich die ursprünglich grünen Oliven dunkel violett verfärben und beim Zusammendrücken den öligen Saft ausspucken, ist genau der richtige Zeitpunkt für die Ernte gekommen. Denn dann hat die Olive ihren maximalen Ölgehalt, aber noch nicht viel Säure entwickelt. Zahlreiche Stadtrömer bewirtschaften als Wochenend-Refugium ein Stück Land draußen vor den Toren der Stadt. Aber wer nicht selbst stolzer Besitzer eines Haines ist, hat zumindest in der Verwandtschaft oder im Freundeskreis einen solchen vorzuweisen.

Olivenbäume wachsen fast überall um Rom. Doch das klassische Olivenanbaugebiet sind unbestritten die lieblichen Sabiner Berge, die in einer halben Stunde Autofahrt über die antike Ausfallstraße der Via Salaria leicht zu erreichen sind. Unzählige Olivenbäume überziehen rautenförmig aufgereiht die sonnigen Abhänge der Ausläufer des Abruzzischen Apennin. Von weitem wirken sie wie silbrig-grüne Tupfen. Mildes Klima, viel Sonne und ein lockerer Kalkboden sorgen für ein qualitativ hochwertiges Öl. Aber um dies zu gewinnen, müssen die Früchte erst einmal vom Baum geholt werden. Man kann mithilfe von Kämmen oder durch das Schlagen mit Stöcken die Oliven von den Zweigen lösen, jedoch könnten so die empfindliche Rinde verletzt oder Zweige gebrochen werden.

Die schonendste Methode ist nach wie vor das Handpflückverfahren, Zweig für Zweig, Baum für Baum. Für die hohen Exemplare benötigt man eine Leiter, außerdem werden Netze am Boden ausgebreitet, damit keine einzige Frucht verloren geht. Bis zu 40 Kilogramm schafft ein geschickter Pflücker pro Tag, was gerade mal zwischen 6 und 8 Liter Öl ergibt. Eine klägliche Ausbeute für einen Tag Arbeit. Das erklärt zumindest den Preis des kostbaren nativen Olivenöls auf dem Markt. Die gepflückten Oliven dürfen nicht lange gelagert werden, da der Gehalt der freien Ölsäure bereits nach 24 Stunden zu steigen beginnt. Es werden gezwungenermaßen alle Familienmitglieder und Freunde mobilisiert, um bei der Ernte zu helfen. Jede Generation trägt auf ihre Weise dazu bei: die Kinder klettern auf die kleinen, jungen Bäume und ernten sie ab, während die Älteren, auf Schemel sitzend, mit dem Herauslesen der Blätter aus den Olivenkörben beauftragt werden. Es ist in dem modernen Italien die einzige Arbeit, die die oft verstreut lebenden Angehörigen und vor allem die verschiedenen Generationen für ein paar Tage zusammenführt. Wie in früheren Zeiten zu den großen Ernten wird der Hain Schauplatz einer Art Familienfeier. Es wird gesungen, gelacht und sich unterhalten auf den Bäumen. Die älteren Frauen bringen Picknickkörbe zur Stärkung herbei. Der eigentliche Festschmaus jedoch findet in der Ölpresse, dem frantoio, statt, wo Tische und Bänke für die Pflücker bereitstehen. Die ersten Tropfen des lauwarmen, sämigen Olivenöls, das aus der Pressung mit tonnenschweren Granitmühlsteinen rinnt, wird mit gerösteten Weißbrotscheiben aufgefangen und sofort verspeist. Es duftet nach frisch geschnittenem Gras und Artischocken und schmeckt fruchtig und leicht nach Mandeln. Anschließend wird der Ölertrag unter den Familienmitgliedern aufgeteilt.

Das jüdische Sprichwort, dass es leichter sei einen Olivenhain zu pflegen als einen Sohn Israels großzuziehen, belegt, als wie schwierig von jeher die Bewirtschaftung eines Olivenhaines angesehen wurde. Die Anbaumethoden sind seit dreitausend Jahren unverändert. Um einen reichen Ertrag zu garantieren, müssen die Bäume beschnitten und der Boden regelmäßig gepflügt und mit Stickstoff gedüngt werden.

Der Olivenbaum flößt Ehrfurcht ein. Weil er unglaublich schön ist mit seinen silbrig im Sonnenlicht schimmernden lanzettförmigen Blättern, getragen von schlanken, beweglichen Zweigen auf einem knorrigen starken Stamm. Aber hauptsächlich, wegen seines Alters, das er scheinbar mühelos erreichen kann. „Er hat den Segen der Stille“, schrieb Erhard Kästner in seinem Griechenland-Buch. „Er ist das Altwerden können. (…) Er ist die Bild gewordene Geduld und die Bild gewordene Zeit.“

Widerspenstig, knorrig und ganz tief in der Geschichte verwurzelt ist der Olivenbaum. Das Erstaunliche dieser uralten Kulturpflanze ist tatsächlich, dass sie erst im „höheren Alter“, mit etwa 35 Jahren beginnt, richtig produktiv zu werden, und das für mindestens 100 Jahre. So ernten Sohn und Enkel das, was der Vater als Vermächtnis hinterließ. Der Olivenbaum ist ein sehr langsam wachsendes Gehölz und trägt überhaupt erst ab dem siebten bis zehnten Lebensjahr. Anfangs ist der grau-grüne Stamm noch schlank und glatt, später entstehen in der festen Rinde meist rissige Verhärtungen, die dem Baum sein typisch knorriges Erscheinungsbild geben. Der älteste und bekannteste Olivenbaum von Latium steht in der Nähe der berühmten Benediktinerabtei bei Farfa im Sabinerland, den man auf 1000 Jahre schätzt. Der älteste Ölbaum Italiens, bei Trevi im benachbarten Umbrien, soll sogar mindesten 1700 Jahre alt sein.

Das östliche Mittelmeer rühmt sich als die Heimat des Ölbaums (Olea europea). In dem Gebiet der heutigen Staaten Syrien und Israel soll im 4. vorchristlichen Jahrtausend aus zwei wild wachsenden Ölbaumtypen durch Kultivierung unsere Olivenbaumarten entstanden sein. Die Bibel bezeugt seinen wichtigen zentralen Platz in der Wirtschaft Kanaans. Möglicherweise gelang es erst einigen Stämmen die Olive zu kultivieren, die den Olivenbaum dann weitergaben. Er verbreitete sich später in Griechenland und Nordafrika und gelangte im 7. Jh. v. Chr. nach Italien. Es wurde das wichtigste Nahrungsmittel neben dem Getreide. Man benutzte es aber nicht nur zu Speisen, sondern auch bei Opfergaben, als Brennöl sowie zu kosmetischen und medizinischen Zwecken.

Im Laufe der Zeit entwickelte die Bestreichung des Körpers mit Olivenöl als Geste besonderer Gnade eine rituelle Bedeutung. Von Gott Begnadete wurden bei den Israeliten mit Öl gesalbt. Man nannte sie Ölkinder. Das Buch der Richter (9, 8-9) überliefert die Königssalbung in einem schönen Gleichnis: „Einst machten sich die Bäume auf, um sich einen König zu salben, und sie sagten zum Ölbaum: ‚Sei du unser König. “Der Ölbaum sagte zu ihnen: ‚Soll ich mein Fett aufgeben, mit dem man Götter und Menschen ehrt und hingehen, um über den anderen Bäumen zu schwanken?“ Die Salbung als besondere Auszeichnung eines Auserwählten meint auch der hebräische Hoheitstitel Messias, was allgemein mit „der Gesalbte“ übersetzt wird. Übertragen ins Griechische, Christos, wird er zum Beinamen Jesu. Jesus ist der Gesalbte, der von Gott auserwählte endzeitliche Heilsbringer.

Das Lukasevangelium belegt ferner den Usus der Krankenheilung mit Öl (10, 25-37): „Der Samariter verband ihm die Wunden und goss darauf Öl und Wein.“ Dieses altjüdische Ritual lässt sich bis in die heutige Zeit verfolgen. In der katholischen Kirche symbolisiert die sakramentale Handlung der Krankensalbung, noch vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil Letzten Ölunggenannt, die Reinigung des Sterbenden von allen Sünden. Dabei salbt der Priester die Stirn des Schwerkranken (für die Seele) und die Handinnenflächen (für den Körper) und spricht das Gebet. Benutzt wird dafür ein vom Bischof gesegnetes Krankensalbungsöl (oleum infirmorum), zumeist Olivenöl. Das Gebet und die Salbung sollten jedoch, dem ursprünglichen Sinn nach, den Kranken vor dem Tod retten und ihn genesen lassen.

Der einstige hohe Stellenwert des Ölbaums im Gelobten Land hat sich auf die Namensgebung von Orten niedergeschlagen, die auf das Vorhandensein von Olivenhainen und -öl hinweisen. Der wohl berühmteste Ort ist der Ölberg, an dessen Fuß der Garten Gethsemani, (der Name bedeutet Ölpresse) liegt, dramatischer Schauplatz der letzten Zwiesprache Jesu mit Gottvater unmittelbar vor seiner Gefangennahme. Noch heute pflegen Franziskaner an dieser (vermeintlichen) Stätte acht über tausend Jahre alte Olivenbäume in einem Gärtchen.

Nicht nur in der jüdischen Welt, sondern auch bei den antiken Griechen und Römern sprach man dem Ölbaum fast magische Bedeutung zu. In der Mythologie galt unter einem Olivenbaum das Licht der Welt zu erblicken, als Zeichen göttlicher Abkunft, wie bei Artemis und Apollo oder auch Romulus und Remus. Heute erinnert ein neu gepflanzter Ölbaum auf dem Forum Romanum an die Geburt der sagenhaften Stadtgründer von Rom.

Ein Kranz aus Ölzweigen war die höchste Auszeichnung des um das Vaterland hoch verdienten Bürgers, sowie der höchste Siegespreis bei den Olympischen Spielen. Der Ölzweig war das Symbol des Friedens und Besiegte, die um Frieden baten, trugen als Zeichen ihrer friedlichen Absichten Ölzweige in den Händen. So wurde dieses allgemein anerkannte Zeichen des Friedens als Emblem für die Flagge der UNO gewählt.

Im alten jüdisch-christlichen Verständnis geht jedoch die Symbolik des Ölbaums noch über die des Friedens hinaus. Als eine Taube am dritten Tag ein frisch gebrochenes Ölblatt zu Noah in die Arche brachte, wusste der Stammvater, dass die Sintflut dabei war, zurückzuweichen (Genesis, 8, 11). Der Ölzweig ist hier Symbol von Hoffnung und Rettung, der Gnade Gottes. Der Ölbaum als König aller Bäume steht in der Bibel für das gesegnete Leben aus dem Glauben an den lebendigen Gott.

Vielleicht trifft der von Erhard Kästners gebrachte Vergleich am besten den Sinn dieses Glaubens: „Ein Glaube, der seine Kraft nicht aus dem ständig neuen ’Kick’ zieht, ein Glaube, der tiefe Wurzeln hat, der sich gelassen verändert, ohne haltlos mit zu schwimmen, ein Glaube, der nicht nur dann Früchte trägt, wenn der Glaubensboden „fett und tief gelockert“ ist, sondern auch auf dürren Böden gedeiht.“