Corona-Unlust trifft kurzsichtige Politik

Der patriotische Zusammenhalt während der ersten Welle ist der Sorge des Einzelnen um sich selbst gewichen. Heute macht die Wirtschaftskrise mehr angst als das Virus. Der Regierung wird vorgeworfen, die Krankenhäuser nicht auf eine zweite Welle vorbereitet zu haben.

Mit einer zweiten Welle hatte niemand ernsthaft gerechnet.

Man glaubte, das Virus mit Maskenpflicht und Disziplin im Griff zu haben. Nach den Opfern des radikalen Lockdowns im Frühjahr war der Wind der Freiheit zu schön, die Erholung der gegeißelten Wirtschaft in den heißen Sommermonaten ein Lichtblick, als alle ans Meer und in Ferienorte stürmten.

Noch Anfang Oktober rühmte die WHO Italien als Modell und Merkel schlug den sonnenhungrigen Deutschen vor, ihre Herbstferien im Belpaese zu verbringen. Italien sei ein sicheres Urlaubsland im Vergleich zu den Nachbarn. Dann schoss der R-Faktor mit den ersten Herbststürmen innerhalb von drei Wochen auf 1,5. Das Gespenst des Tsunami vom März kehrte schlagartig zurück. Premierminister Giuseppe Conte sah sich am 25. Oktober gezwungen, der angeborene Geselligkeit seiner Landsleute per Dekret einen Riegel vorzuschieben. Theater, Kinos und Fitnessstudios mussten komplett schließen, Bars und Restaurants nach 18 Uhr, nachts herrscht Ausgangssperre. Und das allein genügte nicht, um die Neuinfektionen zu bremsen. Seit dem 6. November gelten weitere Einschränkungen. Die 20 Regionen wurden in drei Stufenzonen mit einem gestaffelten Lockdown eingeteilt. Für das Robert-Koch-Institut aber ist ganz Italien wieder Risikogebiet.

Zurück zum home schooling

Am schlimmsten war der Hieb gegen die Schulen. Bis auf die Grundschulen und Kindergärten kehren alle Klassen zum online-Unterricht zurück. Der Wiederaufnahme des Lehrbetriebs nach über halbjähriger Pause war lang und dezidiert vorbereitet worden. Für jedes Kind wurden neuer Schulbänke geschreinert, Abstände im Klassenzimmer markiert und teure Fieberscanner angeschafft. Nun wurde der Schulbeginn Mitte September als wesentlicher Auslöser für die zweite Welle ausgemacht. Lehrer und Eltern geben hingegen den überfüllten Verkehrsmitteln die Schuld an der Übertragung des Virus. Da man das Transportproblem nicht so schnell angehen konnte, hat man eben die Schulen wieder geschlossen.

Norden erneut rote Zone

Erneut Hotspot ist Mailand als größter Ballungsraum, wo auch die Luftverschmutzung ihren Anteil an einer besonders schweren Ausprägung der Infektion haben mag. Auf die reiche Industrieregion Lombardei fallen ein Viertel der nationalen Fälle. Piemont, Val d‘Aosta und Kalabrien wurden ebenso zur roten Zone erklärt. Latium mit der Hauptstadt Rom darf vorerst aufatmen. Es gehört zur gelben, der dritten Zone und ist von weiteren Einschränkungen vorerst befreit, abgesehen von der Schließung der Museen. Vor allem darf man noch in seine Wochenendhäuser (sofern von derselben Stufe) und die Restaurants und die Parks sind tagsüber geöffnet.

Jede Region denkt an sich selbst

Zu einem harten Lockdown, einem landesweiten Stillstand des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens wie im Frühjahr, als man sich nur im Umkreis von 200 m vom Haus bewegen durfte, kann sich Conte bisher nicht durchringen. Es wäre ein verheerendes Signal an die Finanzmärkte, abgesehen von einem weiteren Schlag gegen den Einzelhandel, Handwerk, Gastronomie- und Baugewerbe. Stattdessen will sich die Regierung mit regionalen Restriktionen durch den Winter lavieren.

Eine Ausgangssperre ließe sich in der Bevölkerung heute auch nicht ohne weiteres durchsetzen. Es mag die Angst vor dem unbekannten Virus gewesen sein, die die Italiener im Frühjahr zusammenschweißte. Kaum einer stellte damals die Notwendigkeit des Lockdowns in Frage. Das Opfer des Einzelnen war Ehrensache, fast wie im Krieg, in dem es gilt einen auswärtigen Feind zu schlagen. Das ist nun anders. Die Bürger sind müde, es plagen Geldsorgen und die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren. Etwa 150.000 Arbeitnehmer warteten noch im Oktober auf die Zahlung von Arbeitslosengeld bzw. der Corona-Hilfe. Der Staat gilt als unzuverlässig. Der hat seine Probleme mit den Regionalregierungen, die alleine über die Risikostufe entscheiden wollen. Aber nicht alle haben ihre Hausaufgaben gemacht, die ihnen der Staat aufgetragen hatte.

Neapel: Patientenstau vor der überfüllten Notaufnahme des Krankenhauses Cardarelli; huffingtonpost.it
Neapel: Patientenstau vor der überfüllten Notaufnahme des Krankenhauses Cardarelli; Foto: huffingtonpost.it

Vertrödelter Sommer für einige Regionen

Die Bürger kritisieren vor allem die Regierung in Rom, das Gesundheitswesen nicht gegen die zweite Welle gerüstet zu haben. Bei Ausbruch der Epidemie hatte Italien nur 8,6 Intensivbetten pro 100.000 Einwohner, etwas mehr als ein Viertel der Kapazitäten in Deutschland. Der Covid-Krisenstabsleiter Domenico Arcuri behauptet, dass das Land mittlerweile über 10.000 Intensivbetten verfüge, also seinen Bestand fast verdoppelt habe. Aber offenbar können nicht alle Betten belegt werden, weil es an Personal und Geräten fehlt.

Das Gesundheitssystem ist wohlgemerkt Angelegenheit der Regionen. Und die hatten Gelder mit dem Auftrag erhalten, ihre Intensivstationen zu vergrößern. Damit ließen sich viele Krankenhäuser nach der ersten Welle jedoch Zeit und arbeiteten erst einmal die Behandlungen ab, die sich in der akuten Phase angestaut hatten. Der niedrige Stand der Neuinfektionen im Juli verleitete einen bekannten Mailänder Virologen sogar zu der Fehleinschätzung, das Virus sei geschwächt und klinisch kaum noch nachweisbar. So nahm die Lombardei das Problem auf die leichte Schulter und zahlt nun zum zweiten Mal einen hohen Preis. Die Krankenhäuser in Mailand sind jetzt schon überlastet, und der Winter hat noch nicht einmal begonnen.

Sorgenkind Kalabrien und Kampanien

Im süditalienischen Kalabrien, wo die Krankenversorgung von je her miserabel ist, wurden zwei von fünf öffentlichen Gesundheitsämtern wegen Mafia-Infiltration unter kommissarische Verwaltung gesetzt. Krebs-Patienten sind seit Jahren gezwungen, für eine Behandlung die weite Reise in den Norden anzutreten. Die Einrichtung neuer sanitärer Strukturen ist in der rückständigsten Region Italiens besonders langwierig. Im dicht bevölkerten Kampanien, eine ebenso medizinisch unterversorgte Region, wurden Beatmungsgeräte bestellt, die nicht normgerecht sind. Es fehlen Sauerstoffflaschen. Das Gesundheitsministerium entsandte nun Inspektoren, die die wahren Bestände an Intensivbetten und Ausrüstung ergründen sollen. Danach könnte Kampanien zur roten Zone erklärt werden.

Aber es gibt auch vorbildliche Regionen: Venetien und die Emilia Romagna nutzten die Sommermonate, um den mobilen Krankendienst aufzurüsten, damit Corona-Infizierte zuhause versorgt werden können und nicht die Notaufnahme belasten.

Reformen verlangen Zeit

Die Corona-Pandemie hat einen bekannten Nerv der italienischen Gesellschaft freigelegt: die Nation leistet Großartiges im Notfall, ist jedoch weniger großartig, Notfälle vorzubeugen. Natürlich lassen sich Missstände der sanitären Infrastruktur nicht in wenigen Monaten beseitigen. Das betrifft insbesondere den Fachkräftemangel. Die Ausbildung von Ärzten und Pflegekräften der Intensivmedizin dauert viele Jahre, will man nicht auf Kräfte aus dem Ausland zurückgreifen. In jedem Fall bedarf es weitsichtiger Gouverneure und eines Stufenplans, der auf eine homogene medizinische Versorgung im gesamten Territorium abzielt. Der frühere Sparplan der Regierungen hatte in den letzten 12 Jahren viele Krankenhäuser geschlossen und Stellen abgebaut. Die Unterstellung des Gesundheitsdienstes unter die Zentralregierung wäre für die ärmeren, unterversorgten Regionen von Vorteil. Und nicht nur. Auch die reiche Lombardei hat immer mehr Geld aus dem öffentlichen Gesundheitswesen abgezweigt zugunsten des privaten Sektors – mit dem Ergebnis, dass es im Fall einer Epidemie nicht genug Betten und Ärzte gibt.

Streit um Finanzierung

Die Fünfsterne Bewegung, die Mehrheitspartei in der Regierung, hat die 36 Milliarden aus dem Euro-Rettungsschirm ESM kategorisch abgelehnt. Sie würden die Neuverschuldung belasten und eine Zahlungsschwäche Italiens signalisieren. Die Brüssel-skeptische Bürgerbewegung sieht in den günstigen EU-Krediten vor allem die Gefahr, dass die Troika entgegen ihren Beteuerungen später einmal Bedingungen an den Haushalt stellen könnte – so wie dies in Griechenland geschah. Die nötigen Gelder für die Reformen des Gesundheitswesens will man stattdessen aus dem Recovery Fund schöpfen. Der wird allerdings nicht vor Mitte nächsten Jahres eintreffen. In Anbetracht der zweiten Welle droht Premierminister Conte ein ernsthaftes Finanzierungsproblem.