Strafvollzug in Italien: „Knast produziert Knast“

Gesprächsforum in Rom zwischen Katholiken und Politikern über Sinn und Zweck von Gefängnisstrafe

(Zenit.org) – Heute ist kaum unvorstellbar, dass einmal von italienischem Boden entscheidende Impulse für eine Strafrechtsreform in Europa ausgingen. Der Rechtsphilosoph Cesare Beccaria (1738-1794) kämpfte während der Aufklärung gegen die Todesstrafe und für ein „gerechtes Strafmaß“. Im Großherzogtum Toskana wurde 1786 erstmals in der Geschichte die Kapitalstrafe abgeschafft.

Auch für Voltaire waren nicht Paläste, sondern die Gefängnisse Gradmesser von Zivilisation einer Nation. Unter diesem Aspekt schneidet Italien heute mehr als kläglich ab. Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte bezeichnet die Gefängnisse der drittstärksten Wirtschaftsmacht in der EU als einen Schandfleck. In den letzten sieben Jahren verurteilte er den italienischen Staat zwei Mal wegen „unmenschlicher und entwürdigender Haftbedingungen“.

Über dieses wenig populäre Thema wurde vergangenen 16. November auf dem Kongress mit dem Titel „Strafe und Hoffnung“ in Rom debattiert. Zu dem christlich-laizistischen Gesprächsforum lud der „Vorhof der Heidenvölker“, eine Initiative des Päpstlichen Rates für Kultur ein. Vermittelt zwischen christlichen Standpunkten und Realpolitik hat Mario Marazziti, der Sprecher der Laiengemeinschaft Sant’Egidio, der gleichzeitig Präsident der parlamentarischen Kommission für soziale Angelegenheiten ist.

„Den Opfern Gerechtigkeit zollen ist etwas anderes als nur den Täter richten. Hoffnung ist der Antrieb zur Reue und Besserung“, schrieb Papst Franziskus in einer Botschaft. Sein Losungswort “Hoffnung während des Strafvollzugs” war auch das Motto der Kongress-Veranstaltern. Den Reformvorschlägen stellte sich Justizminister Andrea Orlando (Partito Democratico), der seit 2013 mit einer (low-budget) Reform des Strafvollzuges beauftragt ist.

Zentrales Thema waren die skandalösen Missstände des italienischen Strafvollzugs und die Gründe, die zu dieser Indifferenz geführt haben.

Kardinal Gianfranco Ravasi und Mario Marazziti auf dem Kongress im Palast der Parlamentarischen Gruppen. Rom Foto: Tanja Schultz
Kardinal Ravasi und Mario Marazziti auf dem Kongress in Rom Foto:Schultz

Kardinal Gianfranco Ravasi, Präsident des päpstlichen Kulturrates, eröffnete das Gesprächsforum. Heute kämpft die katholische Kirche und an der Seite von Menschenrechtsorganisationen für die Abschaffung der lebenslänglichen Haft, die sie als „lebenslanger Tod“ bezeichnen.

„Die Justiz muss sich auf zwei Konzepte stützen: die des Gesetzes und der Konversion, der Katharsis. Die persönliche Rehabilitierung des Straftäters muss im Mittelpunkt stehen, nicht allein die Strafvollstreckung,“ betonte Kardinal Ravasi. Beide Seiten, die katholische als auch laizistische, wünschen die Umwandlung der aktuellen „rächenden Justiz in eine wiedergutmachende Justiz, die sowohl die soziale als auch persönliche Rehabilitierung des Straftäters anstrebt“. Für Mazzariti ist „Italiens Justiz ist eine rächende Justiz“. Allein mit der Applikation des Gesetzes in all seiner Härte, würden weder mehr Sicherheit noch Gerechtigkeit geschaffen. Das bewiese die Rückfallquote von 67 Prozent.

Überbelegte schmutzige Zellen, keine Beschäftigung, kein Ausgang

Die Probleme der rund 200 italienischen Strafvollzugsanstalten sind vielfältig. Das Hauptproblem ist die Überbelegung und der katastrophale Zustand der größtenteils sehr alten Gebäude. Jene wurden 2009 vom europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als unmenschlich bezeichnet, sie stoße an die Grenze zu Folter. Die Kläger, sieben ehemalige Häftlinge, hatten weniger als 3qm Raum pro Person in ihrer Zelle zur Verfügung, in der sie 21 Stunden am Tag eingesperrt waren. Europa hat Italien aufgefordert, die Missstände in Kürze zu beheben und die Betroffenen zu entschädigen. Das hat eine Massenklage ausgelöst. 2010 betrug die Überbelegung mit rund 68.000 Häftlingen auf 46.000 Plätzen fast 150 Prozent. Damit hielt Italien das traurige Primat in der EU.

Die Ankündigung mit dem Bau von neuen Gefängnissen 17.000 Plätze zu schaffen, hat sich als Flop erwiesen. Bisher sind nur 4415 eingeweiht worden. Auch wenn die aktuelle Regierung von Matteo Renzi nach dem zweiten EU-Urteil 2013 die Prozentzahl der Überbelegung massiv senken konnte, indem sie alternative Strafen wie Hausarrest anwendeten, – sie liegt heute bei 109 Prozent – hat sich für die verbliebenen Insassen bisher nicht viel geändert im Alltag. Während in Deutschland fast 90 Prozent der Häftlinge einer regelmäßigen Beschäftigung nachgeht, sind in Italien derzeit nahezu 40.000 Gefangene, das heißt 74 Prozent, zum Nichtstun verdammt.

Seit Ende der 80ziger Jahre wurde das Budget für Instandhaltung kontinuierlich beschnitten mit dem Ergebnis, dass fast alle Strafinstitute renovierungsbedürftig, manche sogar abzureißen sind: herabfallender Putz, Schimmelpilz an der Decke durch eindringendes Regenwasser oder nicht ausreichende Belüftung, veraltetes Mobiliar. Dazu fehlt es an entsprechenden Räumlichkeiten für verschiedene Aktivitäten wie Sport, Bibliotheken oder Werkräume. Der chronische Mangel an Wachpersonal sei angeblich der Grund, warum die Insassen die meiste Zeit am Tag in den winzigen Zellen verbringen müssen.

Als extrem schäbig gelten die Sanitäranlagen. In den meisten Zellen gibt es nur eine offene Kloschüssel in der Ecke, manchmal direkt neben der Essecke. Die Notdurft muss zwangsläufig vor den Augen des Wachpersonals als auch der anderen Mitgefangenen verrichtete werden. Im römischen Stadtgefängnis Regina Coeli müssen sich 72 Personen zwei Duschen teilen. Fälle von Krätze sind keine Seltenheit.

Gefängnis Sollicciano in Florenz Foto: linkiesta
Gefängnis Sollicciano in Florenz Foto: linkiesta

Schlechte medizinische Betreuung

Ein Drittel der Häftlinge ist krank. Die medizinische Versorgung in den Anstalten ist mangelhaft, insbesondere die psychologische Betreuung. In der berüchtigten Anstalt Busto Arsizio in der Lombardei stand bis 2013 für 420 Häftlinge nur ein einziger Psychologe zur Verfügung. Er hatte für jeden Gefangenen nur jeweils sechs Minuten Zeit im Jahr. Es braucht neue soziale und sanitäre Strukturen, damit alte Menschen, Behinderte, Frauen mit Kindern und Krebskranke die Strafe in anderer Weise verbüßen können. Es müssen mehr Plätze in therapeutischen Wohngemeinschaften für psychisch Kranke und Drogenabhängige geschaffen werden, ohne dass sie die Zeit der Untersuchungshaft im Gefängnis verbringen müssen. Dass schwierige Haftbedingungen Aggression und Selbstmord begünstigen, liegen auf der Hand: 27,5 Prozent aller Todesfälle in den italienischen Gefängnissen sind Suizide, während der europäische Durchschnitt bei 11,2 Prozent liegt.

Luigi Manconi, Vorsitzender der Senatskommission für den Schutz der Menschenrechte, wies auf das Problem der Suizide nicht nur unter den Gefangenen hin (920 seit 2000). In den letzten 16 Jahren haben sich 100 Strafvollzugsbeamten das Leben genommen. Hinzu gesellt sich die hohe Rate an Selbstmordversuchen und an Selbstverstümmelungen. Sie seien Indizien eines kranken Strafvollzugs, der jegliche Hoffnung raubt und in psychische Erkrankung treibt.

Ausländer werden häufiger zu Haft verurteilt

Ein sehr hoher Anteil, nämlich 35 Prozent der Insassen, sind Ausländer. Davon sitzen die meisten in Untersuchungshaft, entweder als Präventivmaßnahme oder weil sie ohne gültige Papiere sind. Da es zu wenige Dolmetscher und Rechtsberatung gibt, sind ausländische Häftlinge im Vergleich zu den einheimischen noch um einiges mehr benachteiligt. Marazziti wies ausdrücklich darauf hin, dass die Straffälligkeit unter den regulären Migranten in Italien leicht unter der der Einheimischen liegt. „Die Flüchtlingswelle wirkt sich, anders als oft behauptet, nicht negativ auf die Sicherheit aus.“

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Ausländer landen bei geringfügigen Delikten oder bei dem bloßen Verdacht einer Straftat öfter in Untersuchungshaft als Einheimische. Gegen gesellschaftlichen Dünkel sind auch Staatsanwälte und Richter nicht gänzlich gefeit. „Italiens Justiz ist die einer Klassengesellschaft“, stellt der Rechtsphilosoph Prof. Luigi Ferrajoli von der Universität Roma Tre fest. „Aber die Politiker haben die Aufgabe, nicht populistischen Stimmen zu bedienen, sondern zivile Standards zu setzen. Der Bürger glaubt an die Wirksamkeit eines strengen Gesetzes. Dabei leidet gerade die nationale Sicherheit unter diesem Strafsystem.“ Das belege die Rückfallrate von 67 Prozent der Insassen, die ihre Strafe komplett in Haft verbüßen mussten. Zwei von drei Häftlingen werden nach ihrer Entlassung wieder straffällig. „Die bedauerliche Schlussfolgerung dieser Tatsache lautet also: Knast produziert Knast“, resümiert Mazzariti.

Prof. Luciano Eusebi, Dozent für Strafrecht an der katholischen Universität Sacro Cuore in Rom, verwies auf das in der Verfassung verbürgte Recht des Straftäters auf Resozialisierung. Vielmehr würde der Verurteilte seine Strafe passiv absitzen, ohne dass ihm die Möglichkeit eines persönlichen Wandels gegeben würde. Die Passivität in der Haft würde den Menschen zur Unverantwortlichkeit erziehen. Es sollte auch stärker das ursprüngliche soziale Umfeld des Straffälligen für das Strafmaß berücksichtigt werden.

Mehr Möglichkeiten alternativer Strafen nötig

Es fehlen konkrete Wiedereingliederungprogramme, damit die Straftäter tatsächlich eine Chance haben, ein zukünftiges Leben straffrei zu verbringen. Marazziti fordert für leichte Vergehen die Applikation von administrativen Strafen statt Freiheitsentzug. In Italien landen 55 Prozent der Verurteilten im Gefängnis im Vergleich zu 28 Prozent in Deutschland. Bisher wurde nur geringfügig von alternativen Strafen Gebrauch gemacht. Von den aktuellen 55.000 Gefängnisinsassen wird aktuell nur 781 Personen der offene Strafvollzug gewährt, d.h. sie dürfen tagsüber einer Beschäftigung außerhalb der Strafanstalt nachgehen. Haftstrafen werden in Italien schneller verhängt als in den Nachbarländern. Dabei sollte der Freiheitsentzug nur die letzte aller Möglichkeiten sein. Es müssen dringend Arbeitsmöglichkeiten innerhalb und außerhalb des Gefängnisses geschaffen werden. Arbeit ist der erste Schritt der Wiedereingliederung in die Gesellschaft.

Gesetzentwurf für eine Amnestie

Marazziti hat zusammen mit Manconi und anderen Abgeordneten einen Gesetzesentwurf für eine Amnestie ausgearbeitet. Amnestiert oder begnadigt werden sollen Personen mit einer Haftstrafe von maximal vier Jahren für mindere Vergehen. Ausgeschlossen sind beispielsweise Drogendelikte oder sexueller Missbrauch. Der Entwurf liegt zurzeit im Senat in Warteschleife. Marazziti hofft, dass mit einer Annahme des Gesetzes in beiden Kammern, sich die Diskussion um einen humaneren Strafvollzug insgesamt entspannt und der Weg für eine radikale Reform geebnet wird. Eine solche wurde bisher immer mit der Begründung abgelehnt, dass die nationale Sicherheit nicht gefährdet werden dürfe und ein Straferlass die Autorität des Rechtsstaates untergraben würde. Und der hätte in Italien sowieso einen schwierigen Stand. Für viele Bürger hat im Zeitalter des Terrorismus und der Globalisierung eine Amnestie etwas Anrüchiges, zumal sie in der Vergangenheit für Bau- und Steuersünder angewendet wurde. Paradoxerweise ist man gegenüber Kleinkriminellen weniger großmütig.

Keine politische Mehrheit

Justizminister Andrea Orlando steht der Problematik durchaus sensibel gegenüber und hat tatsächlich bereits einiges bewegt. Ihm sind die Hände durch den konservativen Koalitionspartner Angelino Alfano gebunden. Außerdem hat er nur ein geringes Budget zur Verfügung. Er unterstützt den Entwurf, sieht jedoch derzeit keine große Hoffnung, eine politische Mehrheit für das Gesetz zu finden. Darüber hinaus würde die Entlassung von Gefangenen durch eine Amnestie den Gefängnissen auch nur kurzfristig Erleichterung verschaffen. Das Problem der Überbelegung sei ein strukturelles und kulturelles. Die Bürger sähen zwischen sich und Gefängnisinsassen eine riesige Distanz, darin stimme er mit dem Papst überein. Der Bürger wolle den Gesetzesbrecher nur bestraft und weggeschlossen wissen.

Orlando plädiert jedoch eher für den Ausbau von alternativen Strafen. In Ermangelung an Personal soll die Arbeit von ehrenamtlichen Fachkräften in den Gefängnissen erleichtert werden. Bisher haben diese nur bis um 15 Uhr dort Zutritt. Damit sind viele berufstätigen Kandidaten ausgeschlossen. Auch sollen die Häftlinge Zugang zum staatlichen Gesundheitsdienst erhalten. „Der Weg zu einer Behebung der Missstände ist zweifellos lang“, räumte der Minister ein. Er war schon mehrmals in Straßburg und hat dort versucht, die Bemühungen und Fortschritte der Regierung zu präsentieren. Denn eine weitere Verurteilung durch die EU kann sich Italien nicht erlauben.