Griechenland: Wenn die Würde größer als die Angst ist

Italienische Reaktionen auf das Referendum

Die Nähe der Italiener zu den Hellenen ist nicht nur geographischer Natur. Italien rückt, was Staatsverschuldung und Jugendarbeitslosigkeit betreffen, gefährlich nahe an seinen Nachbarn heran, – wenn es auch im Industriesektor und Export viel gesündere Grundlagen vorweisen kann.
Daher wurde das gestrige Referendum in Griechenland sowohl mit Sorge um die Konsequenzen für den eigenen Haushalt als auch mit großer Sympathie verfolgt. Dem entsprechend divergierend sind die Kommentare zu dem überraschenden Nein der griechischen Wähler. Während Premierminister Matteo Renzi sich deutlich von der Strategie Alexis Tsipras mit den Worten distanziert, „ich ziehe Reformen den Warteschlangen vor den Bankschaltern vor“, mehren sich die Stimmen im Lande, die das Exempel der Griechen begrüßen.

Sie sehen den Aufschrei als lange fälligen Protest gegen die europäische Währungsunion, in der die Banken die politischen Entscheidungen steuern. Aber es sei auch ein Protest gegen die Gründungsidee dieser Union, dass die einzelnen Mitgliedstaaten in einem „gesunden Wettbewerb“ glücklich nebeneinander bestehen könnten, ein Wettbewerb, der die Staaten zwingt, sich gegenseitig als (wirtschaftliche) Konkurrenz zu betrachten und sich auszuspielen. Das Regime der freien Marktwirtschaft würde jegliche Solidarität zerstören und die Schwachen rücksichtslos an den Rand drängen.

Der Fall Griechenland hätte auch noch einmal vor Augen geführt, dass bei der Gründung der Währungsunion manche Länder, insbesondere in Südeuropa, nicht dieselben Startvoraussetzungen hatten und es diesen heute fast unmöglich ist, mit den mittel- und nordeuropäischen Partnern mitzuhalten. Obwohl die finanzielle Zukunft Griechenlands nach dem Referendum unsicherer denn je geworden ist – die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) hat es für insolvent erklärt und es herrscht ein akutes Liquiditätsproblem – sehen die Kommentatoren die langfristige politische Tragweite des griechischen Volksentscheid bedeutender als die immanente wirtschaftliche.

„Die vergiftete internationale Finanz und Merkel haben versucht, die griechische demokratische Regierung zu stürzen. Das war der wahre Spieleinsatz bei dem Referendum. Illusionen sind zwecklos. Nur ein radikales Überdenken der europäischen Verfassung und einer Politik der Neuverteilung der Reichtümer kann Europa retten!” kommentiert Paolo Flores d’Arcais, Chefredakteur des Politikmagazins MicroMega. Der angesehene Linksintellektuelle teilt die Meinung von Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman, dass das Ergebnis der Volksabstimmung jedoch auch Gutes für Europa enthalte: „In jedem Fall zählt Demokratie mehr als jedes Währungsmodell.“

Seinem Appell an die EU, mehr Flexibilität in der Frage der Schuldenrestrukturierung zu zulassen, haben sich einige namhafte italienische Ökonomen und Politiker angeschlossen. Darunter befindet sich der ehemalige Premier Massimo D‘Alema (PD), der sich in einem gestrigen Fernsehinterview (all-news Rai) bemühte, falsche Vorstellungen über die bisherige Finanzhilfe zu enttarnen. „Wir (EU) haben Griechenland bisher 250 Milliarden Euro gegeben. Aber nicht für ihre Rentner, sondern um die deutschen und französischen Banken zu bezahlen, die bis zu 15 Prozent Zinsen für ihre Kredite einstreichen. Von dem Hilfspaket flossen nur 10 Milliarden in die Kasse der Griechen, von den restlichen 240 Milliarden haben die Hellenen nichts gesehen.“

Für die Parlamentspräsidentin Laura Boldrini, die sich seit Jahren für eine gerechtere Flüchtlingspolitik einsetzt, war die Abstimmung eine Demokratieprobe. “Aus diesem Ereignis kann endlich eine Kehrtwendung in Sachen Austeritätspolitik in der gesamten EU hervorgehen, die schließlich in Griechenland, aber nicht nur dort allein, ihre volle Wirkungslosigkeit gezeigt hat. Es ist an der Zeit, dass Europa den Kurs in Richtung Wirtschaftswachstum und sozialen Zusammenhalt ändert.“

Die Stimmen in der italienischen katholischen Kirche sind geteilt: einerseits fürchten sie ein Auseinanderfallen der europäischen Union, andererseits plädieren sie mit ihrem Oberhaupt Papst Franziskus für eine menschlichere Politik in Europa, die sich (auch) an dem Schwachen und nicht (allein) am Starken ausrichtet. Seine Kritik an der Übermacht der Hochfinanz hat in der katholischen Welt große Resonanz gefunden. Der heutigen Kommentar in L’Avvenire, der von der italienischen Bischofskonferenz getragenen Tageszeitung, fasst die beiden Stimmungen gut zusammen: „Die griechische Stimme folgt der Linie von Tsipras und versetzt Europa der Technokraten und der Unnachgiebigkeit in eine Krise. (…) Sie markiert den Höhepunkt der Krise eines Europas ohne politische Regierung und einer gemeinsamen Vision. Man muss dieses Zeichen begreifen, das nicht mehr nur ein allgemeines Unbehagen hervorruft, sondern mittlerweile viele europäische Länder hart betrifft und für radikale soziale Spaltung sorgt. (…) Aber der Weg ist lang und steil.“