Italien: Signal für Kehrtwendung in der Ausländerpolitik

Der Gründer der internationalen Gemeinschaft Sant’Egidio, Andrea Riccardi, zum Minister für Integration und internationale Zusammenarbeit ernannt

ROM, 17. November 2011 (Vaticanista).- Schon seit einigen Tagen war die Berufung von Andrea Riccardi in das neu zu bildende Technokratenkabinett im Gespräch. Nachdem er zunächst für den Bildungs- oder Kulturbereich vorgesehen war, entschied Ministerpräsident Mario Monti kurzerhand anders. Monti schneiderte für den bekannten Gründer der Gemeinschaft Sant’Egidio ein Ministerium nach Maß. Andrea Riccardi wurde am Mittwoch zum Minister für Integration und internationale Zusammenarbeit ernannt.

Minister Andrea Riccardi Quelle: Koller

„Die Nominierung kam auch für mich überraschend“, verkündete der frisch gekürte Minister der Presse. Tatsächlich ist internationale Zusammenarbeit bisher ein Aufgabenbereich des Außenministeriums gewesen, während Integrationspolitik dem Innenministerium oblag. Mit der Schaffung eines eigenen Ministeriums will Monti offenbar diesen Themen, die von den vergangenen Regierungen eher vernachlässigt wurden, ein besonderes Gewicht und ein neues Profil geben. Dieser Auffassung ist auch die geistliche Gemeinschaft Sant’Egidio. Mario Marazziti, ihr derzeitiger Sprecher meint in einem ersten Kommentar, dass man mit diesem Ministerium etwas Wichtiges in den Blickpunkt rücken möchte, das bisher als nebensächlich, als Luxus, als nicht notwendig betrachtet wurde.

Ein Leben im Dienste der Völkerverständigung

In keinem Bereich kann der vielfältig aktive Geschichtsprofessor mehr Erfahrung aufweisen und genießt höheres internationales Ansehen. Die zahlreich verliehenen Ehrendoktorwürden und Friedenspreise bescheinigen seinen Ruf als internationaler Experte in alternativen Lösungsmodellen von ethnischen, politischen und religiösen Konflikten.

Sein ganzes Leben hat Riccardi der Verständigung zwischen den Völkern gewidmet und das sowohl im Theoretischen als auch in der Praxis. Seit 1981 lehrt er Geschichte des Christentums und Religionsgeschichte, zunächst an der Universität in Bari, derzeit an der römischen Universität „Roma Tre“. Umgesetzt hat er seine sozialen und religiösen Ideen schon als junger Mann. Vor 43 Jahren gründete er, damals ein durch den ökumenischen Geist des Zweiten Vatikanums beflügelter Gymnasiast, die katholische Laiengemeinschaft Sant’Egidio in Rom, die sich der Freundschaft mit den Armen, dem interreligiösen Dialog, dem Einsatz für Frieden und Menschenrechte verschrieb. Ursprünglich nur auf eine kleine Gruppe von befreundeten Studenten zurückgehend, die arme Stadtbewohner mit Kleidung und Essen versorgten, konnte die Gemeinschaft ihren karitativen Dienst allmählich zu einem kapillaren Netz weltweit ausbauen.

Sie zählt heute ungefähr 50.000 Mitglieder und ist in 73 Ländern vertreten. Da Riccardi davon überzeugt ist, dass „Hunger letztlich nur eine Folgeerscheinung von Krieg und Ausbeutung ist“, rückte im Laufe der Jahre sein Kampf für bedingungslosen Frieden immer mehr in den Vordergrund. Alle Projekte von Sant’Egidio sind diesem Ziel untergeordnet: die Anprangerung von Gewalt und Todesstrafe, der Kampf gegen Aids, Integration von Minderheiten, Alphabetisierung und Förderung der Toleranz zwischen den verschiedenen Religionen und Kulturen. Besondere Einsatzgebiete sind unruhige Regionen oder Staaten in Afrika und Lateinamerika.

Der Diplomat

Andrea Riccardi, ein bärtiger Mann von bescheidenem Auftreten und sanfter Stimme, fehlt es nicht an staatsmännischem Format. Er ist bekannt für seine bildreichen, aufrüttelnden und mitreißenden Reden. Der aus vornehmer Familie stammende Römer hat von Anfang an Kontakte zu einflussreichen Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft in den Dienst seiner Mission gestellt. In internationalen diplomatischen Kreisen zuhause, wo er gerne für seinen innovativen Dialog zwischen Kulturen und Religionen konsultiert wird, konnte er in blutige ethnische und politische Konflikte eingreifen und friedliche Lösungen erreichen. Er und seine Gemeinschaft genossen über Parteigrenzen hinweg Respekt, selbst innenpolitisch: So beeilte sich der bisherige italienische Aussenminister Franco Frattini im September, einen Auftritt beim diesjährigen Friedenstreffen in München, zwischen zwei Terminen noch einzufügen.

Riccardi saß beim Friedensabkommen von Mosambik mit am Verhandlungstisch, er vermittelte im libanesischen Bürgerkrieg und war aktiv an der Wiedervereinigung der Republik Côte d’Ivoire, um nur die bekanntesten Erfolge anzuführen. Der Spitzname der Gemeinschaft „UNO von Trastevere“ bekundet nicht nur, dass Sant’Egidio überall dort zu Hilfe eilt, wo Not herrscht, sondern spielt auch auf die politische Dimensionen der internationalen Friedensmissionen an.

Allein sein zivilgesellschaftliches Engagements für ein solidarisches Europa brachte ihm 2009 den Aachener Karlspreis ein, der in der Vergangenheit nur berühmten Staatsmännern gebührte. Die Zeitschrift „Time“ zählte ihn 2003 unter den 36 „modernen Helden“ in Europa, die sich durch überragenden humanitären Einsatz und Professionalität auszeichneten.

Eine tiefe Freundschaft verband Andrea Riccardi mit Papst Johannes Paul II., dem er jüngst eine Biographie widmete und dessen Vision eines möglichen Weltfriedens er teilt. Konflikte, bedingt durch Glaube und Kultur, seien durch christlich-universelle Nächstenliebe zu überwinden. Die wichtigste Voraussetzung dazu seien gegenseitige Akzeptanz und Toleranz gegenüber dem Andersartigen, ohne die eigene Identität aufgeben zu müssen. Das vom Heiligen Vater 1986 erstmals veranstaltete Weltgebetstreffen in Assisi inspirierte den Gründer zu der Einrichtung des alljährlichen internationalen Friedenstreffen von Sant’Egidio, auf dem dieses Konzept weiter getragen wird.

Der Parteilose ist ein fähiger Technokrat im engsten Sinn. Er vermag dem angeschlagenen Ansehen der italienischen Führungsschicht neue Würde zurückzugeben. „In der festen Überzeugung, dass Italien Einigkeit benötigt, stelle ich mich den Herausforderungen, mit denen unser Land konfrontiert ist. Das Engagement für sozialen Zusammenhalt, nationale Integration und internationale Zusammenarbeit sind Teil meiner über die Jahre gereiften Kultur und Erfahrung. Ich glaube, dass dies die entscheidenden Elemente für ein Land sind, um die Kraft wiederzuerlangen, die zur Meisterung der Krise unbedingt nötig ist.“

Hoffnung auf Fortschritte in der Integrationspolitik

Das Ministerium besitzt keinen eigenen Geschäftsbereich, das heißt es ist ohne Portfolio. Die Hoffnung von Sergio Marelli, Generalsekretär des Verbandes christlicher Organisationen für Entwicklungshilfe (Focsiv), dass die unter der Berlusconi-Regierung stark gekürzten oder gestrichenen staatlichen Subventionen wieder fließen, ist eher unwahrscheinlich. Wichtige Impulse sind jedoch in der Ausländerpolitik zu erwarten. Der frühere Innenminister Roberto Maroni, Mitglied der Lega Nord, hatte die Integrationspolitik zum völligen Stillstand gebracht zugunsten einer verschärften Abschiebepolitik. Das Problem der illegalen Einwanderung wurde von dem Bündnispartner Berlusconis zum Anlass einer allgemeinen Kampagne gegen Ausländer, vornehmlich gegen Farbige genommen.

Italien ist seit den Umwälzungen in Nordafrika erste Anlaufstelle in Europa für Flüchtlinge aus den afrikanischen Kriegsgebieten geworden. Es leben dort derzeit schätzungsweise 7,5 Prozent Ausländer, die größte Gruppe stammt aus Rumänien, gefolgt von der aus Albanien und Marokko (Quelle: Caritas/Migrantes). Der christlichen Mehrheit stehen 1,5 Millionen Muslime gegenüber. Italien ist auf jeden Fall ein relativ junges Einwanderungsland. Die Anstrengungen des Staates, fremde Kulturen sozial einzubinden, sind bisher nur schwach ausgeprägt. Nicht unerheblich ist dabei die Tatsache, dass es in Italien etwa an einer ordentlichen Sozialgesetzgebung wie in Deutschland mangelt. Vielmehr stützt sich der Staat auf die karitativen Dienste der kirchlichen Organisationen. Die Caritas und Sant’Egidio stehen hier an erster Stelle bei der Stillung der sozialen Not.

Jedenfalls sind die sozialen Probleme Italiens Riccardi bestens bekannt. Die Laiengemeinschaft betreut seit über 40 Jahren die Armen in seinen landesweiten Mensen und sozialen Einrichtungen. Einstmals waren die Bedürftigen Einheimische, heute sind es vorwiegend Ausländer, die sich Hilfe suchend an sie wenden. Ihnen bieten die Angehörigen der Gemeinschaft Sprachunterricht an und sie helfen bei Behördengängen. Das alljährlich veranstaltete Weihnachtsessen in der alten Basilika Santa Maria in Trastevere, zu dem Bedürftige aller Nationen und Religionen eingeladen werden, beweist, dass die Idee des Gründers einer Freundschaft und gegenseitiger Akzeptanz zwischen den Völkern kein Traumbild ist. Die Gemeinschaft zeigt sich optimistisch. „Mir scheint die Nominierung unseres Gründers ein Hoffnungssignal in die richtige Richtung zu sein … und auch eine Chance für mutige Entscheidungen,“ sagte Sprecher Mario Marazziti.

Auf den neuen Minister kommt sicherlich keine leichte Aufgabe zu. An moralischer Unterstützung aus der katholischen Welt wird es nicht mangeln. Die Berufung Riccardis in das Monti-Kabinett hat nicht nur in der eigenen Gemeinschaft, sondern auch in katholischen Laienbewegungen wie auch auf Vatikanebene allgemeinen Enthusiasmus ausgelöst. Auf der erst kürzlich in Todi abgehaltenen Großtagung der katholischen Kräfte des Landes unter dem Motto „Gute Politik für das Gemeinwesen“ wurde der Wunsch nach einer neuen verantwortungsbewussten Führungsschicht formuliert. Nun scheint ihr Wunsch nach geistiger Erneuerung Italiens erhört worden zu sein. Neben Andrea Riccardi entstammen auch der Bildungsminister Francesco Profumo, die Justizministerin Paola Severino und der Gesundheitsminister Renato Balduzzi dem katholischen Umfeld. Der Segen aus dem Vatikan ließ nicht lange auf sich Warten. „Eine schöne Mannschaft“ sei das neue Regierungskabinett, sagte Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone am Mittwoch zur Begrüßung.