Christen sind eine verschwindende Minderheit in der Türkei
Wenn Papst Franziskus heute von dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan in Ankara empfangen wird, tut er das nicht als das Oberhaupt der katholischen Kirche, sondern als Staatsoberhaupt des Vatikans. Denn nicht-muslimische Religionen haben keinen Rechtsstatus in der Türkei.
Religionsfreiheit ist zwar in der türkischen Verfassung verbürgt. Diese wird jedoch gleichzeitig durch eine Reihe von Gesetzen eingeschränkt, über deren Einhaltung die staatliche Religionsbehörde wacht. De facto sind christliche Kirchen nicht als öffentliche Körperschaft rechtlich anerkannt, sie dürfen weder Bankkonten führen noch Immobilien besitzen. Ihre Gotteshäuser gehören ihnen nur, weil sie als religiöse Stiftung oder auf den Namen einer Privatperson eingetragen sind. So sind einige griechisch-orthodoxe Kathedralen im Privatbesitz eines Bischofs, eine groteske Rechtslage.
Es darf nicht missioniert, noch dürfen Bibeltexte verteilt werden. Kirchen dürfen keine Geistlichen ausbilden. Fehlender geistlicher Nachwuchs trocknet die Reste christlichen Lebens in der Türkei langsam aus. Kirchliche Bauvorhaben sind einem extrem komplizierten und langwierigen Genehmigungsverfahren unterworfen. Viele uralte Sakralbauten und Klosteranlagen verfallen. Es darf nicht aramäisch, die Sprache Christi, unterrichtet oder gesprochen werden. Vielmehr ist der sunnitisch-islamische Religionsunterricht Pflicht in den Schulen.
Religionsfreiheit nur auf dem Papier
Diese behördlichen Einschränkungen sind tief in der nationalistischen und säkularen Ideologie des Landes verwurzelt. Der moderne laizistische Staat, dessen Bevölkerung offiziell zu fast 99 Prozent muslimisch ist, hat die Religionszugehörigkeit an die nationale Identität geknüpft. „Als Türke bist du Muslim“, heißt es generell. Deshalb sieht man Christen als fremde Bürger an, aber niemals als Türken. Das betrifft übrigens auch andere ethnische und religiöse Minderheiten wie Kurden und Alewiten. Das in Schach halten der christlichen Minderheit hat ihren Ursprung in historischen Ressentiments aus der Zeit der Kreuzzüge. Sie nährt eine irrationalen Furcht vor Christen, die mit westlichen Mächten in Verbindung gebracht werden.
Man bedenke, dass der Islam in Kleinasien erst durch die osmanische Eroberung Einzug hielt. Bis um 1500 war das Christentum die Mehrheitsreligion. Johannes Paul II. sagte einmal, dass „wenn Palästina das Land Jesu ist, die Türkei das Land der Kirche ist“! Es ist kaum mehr bewusst, dass das Gebiet der heutigen Türkei ganz eng mit dem Alten und Neuen Testament verbunden ist. Noah ist mit seiner Arche auf dem Berg Ararat gestrandet, dem höchsten Berg in der Türkei. Abraham war in Haran, in der Südosttürkei, als er den Ruf Gottes hörte, in das Land zu ziehen, „das ich dir zeigen werde“. In Antiochia, dem heutigen Antakya, wurden die Jünger Jesu zum ersten Mal als „Christianoi“, als Christen, bezeichnet (Apostelgeschichte 11,26). Die wichtigsten frühchristlichen ökumenischen Konzile fanden in Kleinasien statt. So entstand das Glaubensbekenntnis in der Form, wie es heute noch allen Christen gemeinsam ist, das „Nicaeno-Constantinopolitanum“, im 4. Jahrhundert in Konstantinopel und Nikäa. Aber die Türkei ist vor allem das Land des Apostel Paulus, der aus Tarsus stammt. Dort hat er am stärksten missioniert, hat die ersten heiden-christlichen Gemeinden gegründet.
Politisch motivierte Verfolgung
Bis vor 100 Jahren betrug der christliche Anteil unter der Bevölkerung noch 30 Prozent. Heute ist mit 0,2 Prozent nur noch ein erschreckend schwacher Abglanz von den christlichen Wurzeln des Landes übriggeblieben. Die Türkei ist das Land mit der größten Christenverfolgung des 20. Jahrhunderts. Es waren politische Ereignisse, die dazu führten. An erster Stelle steht der Genozid an den christlichen Armeniern zwischen 1915 und 1917 durch die osmanische Regierung der Jungtürken, der vermutlich 1,5 Millionen Opfer forderte. Nach dem Ersten Weltkrieg, während des Konflikts mit Griechenland, mussten dann durch den griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausch, der in Wirklichkeit ein christlich-muslimischer Austausch war, zehntausende von Christen Kleinasien verlassen. Die Christen werden in den staatlichen Geschichtsbüchern noch heute teilweise als Landesverräter dargestellt, die aus wirtschaftlichen Gründen aus der Türkei ausgewandert und im Westen „zum Werkzeug der politischen und religiösen Interessen der dortigen Länder“ geworden seien. Durch dieses verzerrte Bild wird die Feindschaft und Fremdheitsgefühl der christlichen Minderheit gegenüber natürlich weiter vertieft.
Heute leben kaum mehr als 120.000 Christen in der Türkei. Die größte Gruppe bilden die ca. 65.000 Angehörigen der Armenischen Apostolischen Kirche und der Armenisch-Katholischen Kirche. Von der ursprünglich größten Gruppe der griechisch-orthodoxen Christen sind nunmehr rund 2000 geblieben. Sie leben überwiegend in Istanbul, wo auch der historische Sitz des ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel ist. Er nimmt den Ehrenrang innerhalb der orthodoxen Kirche ein, wird jedoch von der türkischen Regierung in dieser Position nicht anerkannt. Der Rest der christlichen Gemeinden splittert sich in syrisch-orthodoxe, syrisch-katholische und chaldäisch-katholische Christen, in griechisch-katholische sowie in römisch-katholische Christen auf. Zur (unierten) katholischen Kirche werden laut Vatikanangaben insgesamt 53.000 Menschen gezählt, die sich in 54 Pfarrgemeinden und 13 Seelsorgezentren auf sieben Diözesen verteilen. Die Gläubigen werden von sechs Bischöfen, 58 Priestern, sieben Ordensbrüdern, 54 Ordensschwestern und zwei ständigen Diakonen betreut.
Lage verschlechtert sich mit Aufkeimen des türkischen Nationalismus
In den letzten Jahren hat die Drangsalierung der Christen durch die muslimische Bevölkerung merklich zugenommen. Einrichtungen wurden zerstört, Felder angezündet. Übergriffe und Morde auf einzelne Geistliche wurden vor allem von nationalistisch gesinnten Türken verübt. Besonders brutal war die Ermordung des Apostolischen Vikar von Anatolien, Msgr. Luigi Padovesi, im Jahr 2010.
Die Position der türkischen Regierung ist ambivalent. Einerseits sucht sie seit Jahren Aufnahme in die EU, andererseits schottet sie sich gegen alles Westliche ab und versucht das sunnitisch-islamische Profil der Landesmentalität zu heben, das sie mit Patriotismus tarnen. Gerade in jüngerer Zeit wehrt sich der frühere dreifache Ministerpräsident und heutige Staatspräsident Erdogan gegen den Druck der EU, die als eine der Bedingungen für einen EU-Beitritt, die Anerkennung der christlichen Kirche als eine eigene Körperschaft fordert. Laut Erdogan genössen die Christen in der Türkei mehr staatlichen Schutz als türkische Muslime im demokratischen Deutschland. Im Gegenzug hat vergangenen September der Chef der staatlichen Religionsbehörde, Mehmet Görmez, den Papst angegriffen, er würde nicht gegen die neue Islamophobie-Welle in Europa ausreichend Stellung beziehen.
Außerdem steht die Erdogan-Regierung im Verdacht, die erstarkende Terrormiliz IS heimlich zu unterstützen. Die fanatischen Gotteskrieger dienen ihr dazu, den syrischen Altfeind Baschar al-Assad zu bekämpfen und gleichzeitig die Kurden im Grenzgebiet in Schach zu halten. Erdogan weist diese Vorwürfe strikt zurück.
Papstreise zwischen Ökumene und politischer Botschaft
Eigentlicher Anlass der dreitägigen Papstreise ist die Einladung des Patriarchen von Konstantinopel zum orthodoxen Andreas-Fest in Istanbul. Die mit Bartholomaios I. gemeinsam zelebrierte Feier am kommenden Sonntag steht ganz im Zeichen der Ökumene, die Papst Franziskus seit Beginn seines Pontifikats mit der Orthodoxen Kirche zu stärken sucht. Zum ersten Mal wird Franziskus offiziell eine Moschee besuchen. Mit dem vorangehenden Besuch beim Staatspräsidenten in Ankara folgt er hingegen einer offiziellen Einladung Erdogans, die Vatikansprecher Pater Lombardi als „Höflichkeitsbesuch“ bezeichnete. Dass der Papst als erster ausländischer Staatsmann den neugebauten und umstrittenen „Weißen Palast“ des Präsidenten betritt, der rund tausend Zimmer haben soll, wird ihm eher Unbehagen bereiten.
Neben den Formalitäten des Protokolls dürften jedoch auch politische Themen in den Gesprächen mit der türkischen Staatsführung eine Rolle spielen. Ein Treffen mit dem Religionsbeauftragten Mehmet Görmez ist vorgesehen. Papst Franziskus wird, so ist zu erwarten, die schwierige Situation der Christen in der Türkei ansprechen. Der anhaltende Flüchtlingsstrom aus den Kriegsgebieten Syrien und Irak wird ein weiteres wichtiges Thema sein. Hier hat die Türkei bisher mit der Aufnahme von über 1,5 Millionen Flüchtlingen eine humanitäre und politische Großtat vollbracht. Darunter befinden sich auch zahlreiche Christen, die vor den islamistischen Terrormilizen geflohen sind.
Letztlich wird die türkische Regierung durch das rapide Anwachsen von Minderheiten im Lande – und sei es nur bis zum Ende der Bürgerkriege in den Nachbarregionen – gezwungen sein, durch entsprechende Maßnahmen eine Verschärfung der gesellschaftliche Konflikte vorzubeugen und diesen entgegen zu wirken. Ansonsten werden soziale Spannungen und Hassdelikte gegenüber Minderheiten auf gefährliche Weise zunehmen. Und das hätte auch innenpolitische Konsequenzen.