Kein Hamlet im Vatikan

Interview mit Vatikan-Experten und Buchautor Ulrich Nersinger über Paul VI.

Ulrich Nersinger hat das Ergebnis seiner intensiven Studien über das fünfzehnjährige Pontifikat von Paul VI. jüngst in einer Biographie zu Papier gebracht. Er geht darin der Frage nach, wer dieser widersprüchlich beurteilte Giovanni Battista Montini eigentlich wirklich war. Dabei enthüllt er vor dem Leser das Bild eines mutigen wie fleißigen Reformers und Visionärs, der die Gratwanderung zwischen Modernisierung und Bewahrung von Traditionen und Glaubensinhalten verstand.

Für ihn markiert dieses Pontifikat einen Abschnitt in der Kirchengeschichte, der für das Verständnis der kirchlichen Gegenwart unabdingbar ist. Die anstehende Seligsprechung am kommenden Sonntag rückt den „vergessenen Papst“ wieder in den Blickpunkt. Zenit hat zu diesem Anlass den bekannten Autor befragt.

 

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Seinerzeit galt Paul VI. in den Medien als „Papst des Zweifels“, aufgrund seiner grüblerischen Nachdenklichkeit sogar als „Hamlet im Vatikan“. Man warf ihm vor, mal Reformator, mal Konservator in einer Zeit sozialer Spannungen zu sein, die jedoch eine starke Führung verlangte. Wie bewerten Sie, Herr Nersinger, die Auslegung, nach der sich hinter der Linie von Paul VI. innere Zerrissenheit und Schwäche verborgen hätten?

Es ist ein gravierendes Fehlurteil, das einer mehr als nur oberflächlichen Sicht auf Paul VI. entspringt. Es ist das Urteil jener, die sich, damals wie heute, kaum oder gar nicht mit der Person, den Schriften und den Taten des Papstes beschäftigt haben – oder Unvoreingenommenheit als Kriterium kategorisch ausschlossen. Das Pontifikat des Montini-Papstes weist ganz im Gegensatz zur Person Hamlets ein konsequentes Handeln auf. Und ein gründliches Nachdenken und Abwägen ist eine Tugend, nicht einmal im Ansatz eine Schwäche.

Paul VI. ist der Konzilspapst. Welche waren die konservativen Kräfte, gegen die er ankämpfen musste bei der Umsetzung der Reformen? Welche die der Progressisten?

Hierzu sei zunächst ein Blick auf die Situation während des Konzils erlaubt. Wir neigen dazu, die Väter des Zweiten Vatikanums in feindliche Lager aufzuteilen. Ich denke, hier kommt eine verkürzte Sicht zutage. Ein Konzil muss kontrovers diskutieren. Wer einen Blick in die Geschichte der bedeutendsten Kirchenversammlungen wirft, ist immer wieder überrascht, wie heftig auf ihnen die Auseinandersetzungen waren und mit welch harten Bandagen „gekämpft“ wurde. Es gibt eine hübsche Geschichte, die von Kardinal Alfredo Ottaviani überliefert ist. Der Oberhirte eines kleinen italienischen Bistums war entsetzt über die Streitigkeiten und Intrigen des Konzils und hatte dies dem Paladin des konservativen Flügels der katholischen Kirche geklagt. Ottaviani klärte den Bischof mit einem nachsichtigen Lächeln auf: „Exzellenz, danken Sie Gott dafür, dass Sie nicht in den ersten Jahrhunderten der Kirche an Konzilen teilnehmen mussten. Dort hätten Sie sogar Mord und Totschlag erlebt und gesehen, wie oft es für die Wachen des Kaisers nötig war, mit gezückten Waffen zwischen die Streithähne zu treten.“ Paul VI. besaß einen bewundernswerten Optimismus und ein großes Gottvertrauen. Dem französischen Philosophen Jean Guitton sagte er: „Mich hat die Tatsache erstaunt, dass ein Bischof, der beim Konzil seine Ansicht vortrug, oft einem anderen Bischof widersprach, aber am Tage der Abstimmung stimmten beide gleich ab. Natürlich hatte ein Bischof bei der Diskussion die Pflicht, seine Ansicht und seinen Standpunkt darzulegen. Bei der Abstimmung war seine Aufgabe eine andere; er musste auf die innere Stimme des Heiligen Geistes hören.“

Aber Paul VI. wurde doch auch teils heftig von einigen Prälaten angegriffen. Wie verhielt er sich bei den Kontroversen?

Der Papst verfolgte aufmerksam jede Phase der Kirchenversammlung, und so entglitt das Konzil nicht den unumstößlichen und unverzichtbaren Vorgaben, die Dogma und Tradition aufstellen. Drohten missverständliche Ansichten in die Erklärungen, Dekrete oder Konstitutionen des Konzils einzufließen, war die korrigierende Hand des Papstes zu sehen. Konsequenz – um auf die erste Frage zurückzukommen – zeigte er auch in der Umsetzung der vom Konzil geforderten Reformen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Als der Heilige Vater die erneuerte Form der Eucharistiefeier kraft seiner Apostolischen Autorität zur Verpflichtung machte, stieß er auf harten Widerstand. Vor allem ein französischer Prälat, Erzbischof Marcel Lefebvre, stemmte sich mit der von ihm begründeten Priesterbruderschaft St. Pius X. gegen das Reformwerk und verharrte in der Zelebration vergangener Tage. Papst Paul VI. sah in der neuen Messordnung einen Prüfstein des Konzil, hinter dem es zum Wohle der Kirche kein eigenmächtiges Zurück gab. Letztendlich sah sich der Papst zu der schmerzlichen Entscheidung gezwungen, den Erzbischof und seine Mitbrüder mit schweren Kirchenstrafen zu belegen mit den Worten „wir können es nicht dulden, dass die Allerheiligste Eucharistie des Herrn, das Sakrament der Einheit, Gegenstand von Spaltungen ist und sogar als Werkzeug und Zeichen der Rebellion benutzt wird.“ Der Papst musste sich aber auch denen entgegenstellen, „die sich für autorisiert halten, sich ihre eigene Liturgie zu schaffen, wobei sie mitunter das Messopfer oder die Feier der Sakramente auf die Feier ihres eigenen Lebens oder Kämpfens oder aber auf das Symbol der Brüderlichkeit einschränken oder sogar missbräuchlich die Interkommunion praktizieren“ (Ansprache im Konsistorium von 24. Mai 1976).

Paul VI. hat damals entscheidende Weichen für die Öffnung und Anpassung der Kirche an die gesellschaftlichen Veränderungen gestellt. Welche sind Ihrer Meinung nach seine größten Verdienste?

Es ließe sich hierzu ein sehr langer Katalog aufstellen. Papst Paul VI. hat das Konzil zu einem erfolgreichen Abschluss geführt, der eine notwendige Erneuerung der katholischen Kirche einleitete. Man denke an die Neubelebung der Liturgie, der Sakramentenpastoral und des Gebetslebens. Die Römische Kurie machte er durch eine Neuorganisation noch deutlicher als Verpflichtung des Petrusamtes im Dienst an der Weltkirche sichtbar. Seine Apostolischen Reisen zu allen Kontinenten der Erde haben das Band des Heiligen Stuhles zu den Ortskirchen gestärkt. Seine Bemühungen um eine Einheit unter den Christen waren beispielhaft; seine Begegnungen mit dem Patriarchen von Konstantinopel, dem Erzbischof von Canterbury und zahlreichen Vertretern des Protestantismus wurden zu Meilensteinen der Ökumene. Die Reden des Papstes vor den Vereinten Nationen in New York und der Internationalen Arbeitsorganisation in Genf sowie seine zahlreichen Friedensinitiativen haben der Kirche ihre Mitverantwortung für eine bessere Welt in Erinnerung gerufen. Die Teilnahme des Heiligen Stuhles an der „Konferenz für Frieden und Sicherheit – KSZE“ legte letztendlich den Grundstein für ein neues Europa. In deren Schlussakte vom 1. August 1975 erreichte der Vatikan die Aufnahme des Passus: „Die Teilnehmerstaaten werden die Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion achten.“ Damit sorgte der Heilige Stuhl für einen Anspruch, auf den sich bis zum Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa Katholiken, Christen und Dissidenten berufen konnten. Lassen Sie mich unter vielen weiteren Punkten auch das Eintreten Pauls VI. für die Moderne Kunst nennen; ihr öffnete er die Pforten des Vatikans. 1964 war der Papst in der Sixtinischen Kapelle mit Malern, Bildhauern, Musikern und Dichtern zusammengetroffen; den dort versammelten Künstlern bot er an: „Lasst uns wieder Freunde sein.“

Montini hatte weder die väterliche Art von Johannes XXIII. noch das Charisma von Johannes Paul II. Er galt eher als reserviert und streng. Was wissen wir über seinen Charakter und seine Vorlieben, seine Umgangsformen? Und inwieweit spielten schon damals „medienwirksame Eigenschaften“ eine Rolle in der Beurteilung eines Papstes?

Mit dem Begriff „medienwirksame Eigenschaften“ legen Sie den Finger auf die Wunde. Päpste wie Pius XII., Johannes XXIII. und Johannes Paul II. verstanden es, „gut `rüber zu kommen“; auch der jetzige Heilige Vater schafft dies bravourös. Paul VI. hingegen tat sich schwer in der direkten medialen Präsenz, obschon gerade er mit großem Engagement den Kontakt mit der Öffentlichkeit suchte. Als Sohn eines auch journalistisch tätigen Vaters war er sich schon sehr früh der Bedeutung von Presse, Radio und Fernsehen bewusst, sah in ihnen unabdingbare Mittel, mit der die Kirche zu kommunizieren hatte, und förderte sie in beträchtlichem Maße, so dass er als „Medienpapst“ galt und gilt. Sich persönlich zu „vermarkten“, war ihm jedoch nicht gegeben. Dem widersprach seine Persönlichkeit, die sich durch ein zurückhaltendes und diskretes Wesen auszeichnete – den Charakterisierungen „reserviert“ und „streng“ würde ich nicht zustimmen. Wer mit Paul VI. zusammentraf, schilderte ihn als äußerst liebenswürdig und zuvorkommend, sogar dann, wenn der Betreffende in seinen Ansichten und Überzeugungen nicht mit ihm übereinstimmte.

Vom Kirchenvolk wird Paul VI. vor allem mit der Enzyklika „Humanae vitae“ in Verbindung gebracht. Hier entschied der Papst gegen die mehrheitliche Auffassung der Studienkommission, dass Antikonzeptionsmittel an sich nicht verwerflich seien. Erst 40 Jahre später gab es eine Rückbesinnung – Kardinal Schönborn sprach von „Sünde des europäischen Episkopats“, den Papst damals nicht voll unterstützt zu haben. Wer waren damals die Gegner des Verbots und welche waren ihre Argumente?

Man muss die sehr heftigen Reaktionen auf „Humanae Vitae“ nicht zuletzt im Kontext zur damaligen Zeit betrachten. Es waren die „68er“, und Papst Paul VI. hatte seine Enzyklika mitten in diesem Sturm des Aufbegehrens verfasst. Er besaß den Mut und die Charakterstärke, einem unglaublichen Druck, den Verlockungen des Zeitgeistes, zu widerstehen. Die Enzyklika schrieb er aus einer tiefen pastoralen Sorge heraus. Die Argumente der Befürworter eines Einsatzes von Verhütungsmitteln hatte der Papst durchaus ernst genommen und auch die Redlichkeit vieler Vertreter dieser Ansicht nicht in Abrede gestellt, zumal das Spektrum der Gegner des Verbots ein breites war und die Kategorien „konservativ“ und „progressiv“ in diesem Fall nicht automatisch griffen. Heute wird „Humanae Vitae“ von vielen als ein prophetisches Dokument gesehen. Es gilt, dieses wichtige Lehrschreiben immer wieder neu zu lesen, in ihm ein einzigartiges und beeindruckendes Lob der ehelichen Liebe und der Weitergabe menschlichen Lebens zu entdecken. Damals – und leider auch heute noch – beschränkte sich das Wissen um die Enzyklika auf das „Pro“ und „Contra“ der Verhütung.

Der Termin seiner Seligsprechung wurde auf den letzten Tag der Weltbischofssynode zur Familienpastoral am 19. Okt. gelegt, eine Einrichtung, die von Paul VI. 1965 selbst angeregt wurde. Soll damit auf den prophetischen Charakter dieser damals umstrittenen Enzyklika hingewiesen werden? Ist mit einer verspäteten Würdigung seines Pontifikats zu rechnen?

Mir persönlich erscheint es, als könne die Seligsprechung am kommenden Sonntag die beste Antwort auf die bei der Bischofssynode so kontrovers diskutierten Themen sein. Paul VI. war ein Mann, der die Herausforderungen der Zeit nicht scheute, sich ihnen stellte und ihnen in der Kraft und Weisung der überlieferten Lehre entsprechen wollte. Sein Apostolat galt dem Seelenheil, der liebenden Zuneigung gegenüber den ihm Anvertrauten, dem Beistand in schwierigen Lebenslagen – ohne dem Zeitgeist billigen Tribut zu zollen oder um ebenso billigen Beifall zu buhlen. Paul VI. ist seinen Weg gegangen, in der Verantwortung des ihm übertragenen Dienstes, immer in der Wahrheit des Glaubens, beharrlich trotz vieler Anfechtungen und Niederlagen – „Er trug das Licht des Tabors in seinem Herzen, und mit diesem Licht ging er bis zum Ende, mit evangelischer Freude sein Kreuz tragend“, sagte der heilige Johannes Paul II. von ihm. In einem solchen Leben sieht die Kirche Heroizität und Heiligkeit, und darum erkennt sie ihm am 19. Oktober in einem feierlichen Akt die Auszeichnung „selig“ zu. Wie Paul VI. dem Herrn nachfolgte, sollte uns allen Trost, Beispiel und Ansporn sein.

Herr Nersinger, wir bedanken uns für dieses Interview.

Ulrich Nersinger, Jahrgang 1957, ist einer der renommiertesten deutschsprachigen Vatikanexperten. Der Theologe und Kirchenhistoriker hat in Bonn, Wien und in Rom am Päpstlichen Institut für Christliche Archäologie studiert. Er ist Mitglied der Pontificia Accademia Cultorum Martyrum und ist in Selig- und Heiligsprechungsprozessen als Postulator und diözesaner Untersuchungsrichter tätig. Neben zahlreichen Buchveröffentlichungen ist er regelmäßiger Gastautor u.a. des Osservatore Romano.