„Ich beneide die acht Kardinäle nicht“

Interview mit Vatikanist Ulrich Nersinger über sein neuestes Buch und über die Reformpolitik von Papst Franziskus

Der Titel „Der unbekannte Vatikan“ mag auf Anhieb die Enthüllung von Ränkespielen und geheimen Machenschaften implizieren, die häufig hinter den hohen Mauern der Leitzentrale des Katholizismus vermutet werden. Ulrich Nersinger überrascht den Leser hingegen mit „Enthüllungen“ ganz anderer Natur. Denn unbekannt ist den meisten Personen, warum der Papst eine Schweizer Schutztruppe, ein diplomatisches Corps oder einen Zeremonienmeister unterhält. Oder wie die Römische Kurie und die Rechtsprechung funktionieren, welchem Zweck die Vatikanbank wirklich dient und warum sie nicht problemlos aufgegeben werden kann. Auch wenig bekannt ist die aktive Teilnahme der Päpste an modernen Wissenschaftsprojekten wie der Erforschung des Weltalls: dass das vatikanische Teleskop heute in Arizona steht und der Heilige Stuhl eine der größten Meteoritensammlung besitzt!

Ulrich Nersinger Quelle: Domradio.de
Ulrich Nersinger Quelle: Domradio.de

Der Autor lädt mit schwungvoller Feder zu einer unterhaltsamen Reise durch die Jahrhunderte des Papsthofes ein. Sachliche Informationen sind reich bespickt mit bunten Episoden und Anekdoten, die die Lektüre auch für ein Nichtfachpublikum anziehend machen. Dem Leser wird das altertümlich anmutende Hofzeremoniell ebenso verständlich erklärt wie die Herkunft der päpstlichen Farben und Insignien. Nebenbei darf er über Pannen im Protokoll bei Audienzen schmunzeln, die Nersinger zum Besten gibt, so zum Beispiel darüber, wie Bill Clinton den Liftboy im Apostolischen Palast salutierte, weil er ihn aufgrund der prächtigen Uniform für einen hohen Würdenträger hielt.

Nersinger spannt einen weiten Bogen von den Anfängen des Petrusgrabes auf dem unwirtlichen ager vaticanus über die Entstehung des Patrimonium Petri im Mittelalter zum Neubeginn mit der Gründung des Vatikanstaates im Jahr 1929, der keine weltlichen Interessen mehr verfolgt. Es entsteht das lebendige Bild einer von Menschenhand geschaffenen Institution, die sich seit fast zweitausend Jahren mit allen Kräften um die Fortführung des apostolischen Auftrags bemüht. Um diesen ausführen zu können, verteidigt der Vikar Christi auch heute noch seine politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit mit einem Staat, der kleinsten Wahlmonarchie der Welt.

Ulrich Nersinger, Jahrgang 1957,  ist einer der renommiertesten deutschsprachigen Vatikanexperten. Der Theologe und Kirchenhistoriker hat in Bonn, Wien und in Rom am Päpstlichen Institut für Christliche Archäologie studiert. Er ist Mitglied der Pontificia Accademia Cultorum Martyrum und ist in Selig- und Heiligsprechungsprozessen als Postulator und diözesaner Untersuchungsrichter tätig. Neben zahlreichen Buchveröffentlichungen ist er regelmäßiger Gastautor u.a. des l’Osservatore Romano. Nersinger durfte Papst Franziskus sein neues Buch bei der letzten Generalaudienz persönlich überreichen. „Wird gelesen“, versprach der Argentinier in flüssigem Deutsch!

ZENIT hat den Vatikan-Insider zu einem Gespräch getroffen, in dem er sich brennende Fragen zu dem neuen Pontifikat und zu der Aufnahme innerhalb des Vatikans der von Papst Franziskus eingeläutete Veränderungen und Reformen stellte.

ZENIT: Der Vatikan ist ein beliebtes, publikumswirksames Thema der Medien geworden. Es gibt unzählige Talkshows, in denen die Pontifikate analysiert, aber vor allem über „Skandale“ im Machtzentrum der katholischen Kirche diskutiert wird. Fehlt es diesen Diskussionen häufig an Grundlagen? An welchen Leserkreis wendet sich Ihr Buch?

Vermutlich übertreibe ich nicht, wenn ich behaupte: Der Vatikan ist in aller Munde. In den Medien ist er omnipräsent. Wer in eine bekannte Suchmaschine des Internets den Begriff „Vatikan“ eingibt, erhält den Verweis auf fast siebzehn Millionen Einträge. Dennoch oder gerade deswegen fällt eine Definition von dem, was der Vatikan eigentlich ist, nicht leicht. Als Schlagwort bietet es eine Fülle von Deutungen und viel zu oft auch Missdeutungen. Das Buch versucht, die vielen Facetten des Vatikans in allgemeinverständlicher und hoffentlich auch spannender Lektüre dazulegen. Ich habe mich bemüht, so manchen wahren und vermeintlichen Schleier, der über dem Vatikan liegt, zu lüften, und den Leser und Leserinnen eine solide, aber nicht trockene Erstinformation vorzulegen, die Neugier und Interesse für das Zentrum der katholischen Kirche wecken möge.

 

ZENIT: Nach dem Rücktritt von Papst Benedikt XVI. wurde der Ruf nach Reformen des Vatikans auch im Kardinalskollegium laut. Von vielen Gläubigen wird der Vatikan heute als bizarrer, abgeschotteter „Renaissancehofstaat“ aufgefasst, der nicht mehr zeitgemäß ist und der sich von den Ortskirchen entfernt hat.

Viele Einrichtungen, Ämter, Zeremonien und Liturgien im Vatikan werden nur durch das Wissen um deren Herkunft und Substanz verständlich. Hier gilt es Aufklärung zu betreiben. Es ist zumeist die Unkenntnis der Materie, die ein Kopfschütteln oder eine Ablehnung erzeugt. Meine Erfahrung ist es, dass man in sachkundigen Gesprächen den Großteil der Vorwürfe widerlegen kann. Aber das bedarf einer gewissen Anstrengung, die jedoch unbedingt von Nöten ist. Über den Vatikan zu informieren, ist kein unmögliches Unterfangen. Erlauben Sie mir eine zusätzliche Bemerkung: Wenn ich mir weltliche Entsprechungen anschaue – das Weiße Haus in Washington, den Kreml in Moskau und den Brüsseler EU-Apparat – , entdecke ich dort viel „höfischeres“ Gebaren. Hochzeiten im europäischen Adel und die alljährliche Geburtstagsparade für Königin Elisabeth II. locken ein Millionenpublikum an die Fernseher – und kaum jemand empört sich.

 

ZENIT: Papst Franziskus wird von der einschlägigen Presse als der „Revolutionär“ auf dem Petrusthron gefeiert (Times Magazin), als derjenige Pontifex, der endlich aufräumt mit überflüssigem Pomp. Wo sind Ihrer Auffassung nach Reformen tatsächlich nötig?

Die Frage nach Reformen stellt sich immer. Und die Kirche tut gut daran, sie zu beantworten und die Auseinandersetzung mit ihr zuzulassen. In der Diskussion um nötige Reformen und in deren Umsetzung sind Sachkenntnis, Wahrhaftigkeit und Klugheit gefordert. Ich habe den Eindruck, dass Wünsche und Forderungen, die an den Papst und die Kurie herangetragen werden, die genannten Tugenden wenig beachten, ja häufig zur Gänze negieren. Man nimmt Aktionen und Entscheidungen des Heiligen Vater wahr und nimmt sie auf, aber selektiert – und lässt Äußerungen des Papstes, die nicht in die eigene Sichtweise oder Ideologie passen, beiseite. Viele vorgebliche Paladine des Heiligen Vaters nehmen ihn für „Reformen“ ein, die nicht die seinen sind – ein Horchen auf die alltäglichen Homelien bei der heiligen Messe in Santa Marta würde sie eines Besseren belehren. Der Katalog sinnvoller Reformen ist lang. Ich persönlich könnte mir vorstellen, dass man in dem pastoralen Konzept, das Papst Franziskus vorschwebt, von Rom Unterstützung erhält durch Schreiben, Empfehlungen und Handreichungen, die kürzer und verständlich formuliert sind – und auch nur dann, wenn sie wirklich vonnöten sind. Sinnvoll wäre es sicherlich, den schon längst beschrittenen Weg, in die Arbeit der Römischen Kurie Laien beiderlei Geschlechts einzubinden, fortzusetzen und Männer und Frauen verstärkt mit Leitungsfunktionen, die keine Weihe erfordern, auszustatten.

 

ZENIT: Besonders begrüßt wurde die Schlichtheit im Kleidungs- und Wohnstil von Papst Franziskus. Die weiße Soutane und das eiserne (anstatt goldene) Brustkreuz sind seine Markenzeichen. Mozzetta und spitzenverzierte Chorhemden scheinen der Vergangenheit anzugehören. Das hätte anfänglich zu Konflikten mit dem Zeremonienmeister geführt. Hatte denn Benedikt XVI. einen Faible für „barocken“ Kleiderluxus?

Jeder Papst hat seinen eigenen Zugang zur Feier der Liturgie und dem offiziellen Auftreten im Vatikan. Die persönliche Einstellung zu liturgischen Formen, die Verwurzelung und die Erfahrungen aus dem eigenen Kulturkreis bestimmen dann das Erscheinungsbild, das sich von dem des Vorgängers abhebt. Das ist bei jedem Pontifikatswechsel zu beobachten – und zu respektieren. Der Vergleich „Benedikt – Franziskus“ scheint besonders kontrovers auszufallen. Doch hier ist Vorsicht und Abkehr von oberflächlicher Betrachtung geboten. So kann  man Benedikt XVI. einen „barocken Kleiderluxus“ persönlich nicht zum Vorwurf machen. Als ich in den Achtzigerjahren nach Rom zum Studium kam, konnte ich wie viele, die in der Ewigen Stadt lebten, feststellen, dass auf den damaligen Präfekten der Glaubenskongregation die Bezeichnung „Kirchenfürst“ mitnichten zutraf. Man sah oft, wie Kardinal Ratzinger von seiner Wohnung  an der Piazza Città Leoniana zum Palast des Heiligen Offiziums hin- und zurückging – in der einfachen schwarzen Soutane und einem unmodischen Mantel, die Baskenmütze auf dem Kopf, die Aktentasche in der Hand. Kein anderer Kardinal tauchte so selten auf Empfängen auf. Luxus und herrschaftliches Auftreten waren ihm zuwider. Auch bei der Feier der heiligen Messe ging es Joseph Ratzinger immer um das Geistig-Geistliche, nie um Gewänder oder eine preziöse Zelebration. Nach seiner Wahl zum Nachfolger Petri war der Heilige Vater nicht immer gut beraten in der Wahl liturgischer und zeremonieller Utensilien, die ihm – so erscheint es mir – aufgedrängt wurden. Als jemand, der um die historischen Wurzeln und die hohe Bedeutung von Insignien und Kleidungsstücken weiß, sie zu tiefst schätzt und sie für notwendig hält, hat mir die nicht selten unkluge Verwendung und die Zurschaustellung bestimmter überkommener Stilrichtungen Bauchweh verursacht. Ich kann den Unmut des jetzigen Papstes über Rochetts, die mehr Spitzen als Substanz besaßen, und Thronaufbauten, die schon Pius XII. als übertrieben empfand, sehr gut verstehen.  Es kann dann leicht passieren, dass das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird. Mir tut es von Herzen leid und weh, wenn so das Gefühl für einen sinnvollen Gebrauch von Rochett, Mozzetta u. ä. verlorengeht.

 

ZENIT: Hat die Abschaffung von Ehrentiteln innerhalb des Vatikans nicht zu Enttäuschung und Unmut geführt? Wie wird das Ablegen solcher Traditionen aufgenommen?

Zunächst einmal muss man festhalten, dass die „Monsignori“ nicht gänzlich aus dem „Leben“ der Kirche verschwunden sind. Die Modalitäten dieser alten kirchlichen Praxis wurden geändert, die Ernennungen strikteren Vorgaben unterworfen. Die Verleihung eines geistlichen Ehrentitels durch den Papst ist als Zeichen des Dankes zu verstehen für Dienste, die dem Heiligen Stuhl und der Kirche in herausragendem Maße geleistet wurden – und als Ansporn für die künftige Arbeit. So gesehen sind diese kirchlichen Ehrentitel eine sinnvolle Einrichtung. In den vergangenen Jahrzehnten aber haben die Ernennungen zu Kaplänen und Ehrenprälaten Seiner Heiligkeit und Apostolischen Protonotaren an Zahl zugenommen. Weniger wäre oft mehr gewesen. Manchmal entsprach der Lohn auch nicht dem Verdienst. Mir persönlich bereitete vor allem der Automatismus Probleme, mit dem Geistlichen in bestimmten Positionen ein Ehrentitel „winkte“. Vor der Reform des Päpstlichen Hofes im Jahre 1968 gab es ein kluges Vorgehen. Nur wenige dieser kirchlichen Ehrentitel wurden auf Lebenszeit verliehen, viele nur für die Dauer der Regierungszeit des Papstes, der die Verleihung ausgesprochen hatte – wobei jedoch die Möglichkeit bestand, nach dem Ableben des Papstes für das neue Pontifikat um eine Bestätigung des Titels anzusuchen. Leistung und Integrität müssen die Qualifikation für eine Auszeichnung sein, nicht Eitelkeit und Karrierismus. Die jetzigen Reformen betreffen überwiegend die Verleihung und den Gebrauch der Ehrentitel außerhalb des Vatikans. Im Päpstlichen Haus und an der Kurie kann ihre weitere Verwendung Sinn machen, wenn sie eng und sinnvoll an bestimmte Aufgaben gebunden sind.

 

ZENIT: Papst Franziskus scheint eine neue Sprache eingeführt zu haben. Er bedient sich der Medien, um in den Dialog mit Nichtgläubigen zu treten. In Italien erregte das Interview mit dem Linksintellektuellen Eugenio Scalfari über Glaubensfragen großes Aufsehen. Katholische Kreise warfen ihm vor, sich zu lax vor der laizistischen Presse zu äußern.

Ein Zugehen der Päpste auf neue Medien ist kein Novum. So ließ sich bereits der oft als reaktionär gescholtene Gregor XVI. (1831-1846) bei einem Besuch in einer wissenschaftlichen Einrichtung eingehend über das Fotografieren informieren. Leo XIII. (1878-1903) verfasste noch als Kardinal ein lateinisches Gedicht über die „ars photografica“; als Papst ließ er sich 1897 in den Vatikanischen Gärten filmen. Pius XI. (1922-1939) tat sich mit dem Rundfunkpionier und Nobelpreisträger Guglielmo Marconi zusammen, um Radio Vatikan zu gründen. Pius XII. (1939-1958) gab die Erlaubnis zu einem Dokumentarfilm über seine Person: „Pastor Angelicus“. Noch immer lesens- und empfehlenswert ist der „Dialog mit Paul VI.“ des französischen Philosophen Jean Guitton. Benedikt XVI. (2005-2013) empfing in seiner Sommerresidenz Castel Gandolfo Journalisten zu einem Fernsehinterview. Das Sicheinlassen von Personen, die im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit stehen, auf die Medien kann jedoch schneller als erwartet zu einem Gang über ein Minenfeld werden. Selbst, wer glaubt, auf dieser Klaviatur spielen zu können, ist vor Überraschungen nicht gefeit. Eine kleine, historisch verbürgte Anekdote mag dies verdeutlichen: Als Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli, der spätere Papst Pius XII., die USA besuchte, stürmte eine Reporterschar auf ihn zu. Er hatte kaum seinen Fuß auf amerikanischen Boden gesetzt, da wurde er gefragt: „Werden Sie in New York Nachtbars besuchen?“ Der erfahrene Diplomat glaubte Herr der Lage zu sein und antwortete lächelnd: „Gibt es in Ihrer Stadt Nachtbars?“ Die Eminenz war überrascht, als sie am folgenden Tag in der Zeitung die Schlagzeile las: „Erste Frage des Kardinalstaatssekretärs in den USA: Gibt es hier Nachtbars?“ Heute wäre es die Aufgabe und moralische Pflicht der Umgebung des Papstes den Heiligen Vater kompetent und unterstützend im Umgang mit den Medien zu beraten – was ich bedauerlicherweise oft, zu oft vermisse.

 

ZENIT: Stichwort Kurienreform: Auf den Vorkonklaven wurde über mangelnde Kollegialität in dem Riesenapparat der Kurie geklagt. Der Vatileaks-Skandal suggeriert zu viel persönliche Ambitionen und italienische Klüngelwirtschaft. Wie kann Franziskus die Zusammenarbeit der Dikasterien fördern?

Jeder Dienst- und Verwaltungsapparat – sei es im weltlichen wie auch im kirchlichen Bereich – ist menschlichen Unzulänglichkeiten unterworfen. Wir leben nicht im Himmel. Persönliche Ambitionen – das reicht von Eitelkeiten über krankhaften Ehrgeiz bis hin zu einem pathologischen Narzissmus -, Klüngelwirtschaft und Intrigen sind verwerfliche, subversive Erscheinungen, die sich zu einem Krebsgeschwür entwickeln können. Von daher kann man die harten Worte des Heiligen Vaters hierzu sehr gut verstehen und ihnen zustimmen. Doch diese zerstörerischen Fehlentwicklungen gab es immer und überall. Ich möchte nicht zynisch klingen, aber mir fallen dazu die Worte ein: „Wie es war im Anfang, so auch jetzt und alle Zeit, und in Ewigkeit … “. Nichts desto trotz gilt es dagegen anzukämpfen! Und dabei braucht es nicht selten einer harten Hand, die Papst Franziskus zweifelsfrei besitzt.

 

ZENIT: Ist mit Zusammenlegung bzw. Streichung von Dikasterien zu rechnen?

Umbenennungen, Zusammenlegungen und Aufhebungen von Behörden und Einrichtungen der Römischen Kurie hat es schon immer gegeben. Die jahrhundertealte Geschichte der Verwaltung der Weltkirche gibt hierüber beredt Auskunft. Änderungen im Aufbau und in der Zusammensetzung der Kurie waren und sind daher kein Tabu. Ich vermute, dass der Heilige Vater eine sinnvolle Straffung des Apparates vornehmen wird – und sich entscheidet, neue Akzente in der Arbeit der Römischen Kurie zu setzen.

 

ZENIT: Der eben gegründete Wirtschaftsrat aus acht Kardinälen und sechs Laien-Experten setzt sich mehrheitlich aus Kurienexternen zusammen. Wird der Rat den gewachsenen, stark in der italienischen Kultur verankerten Apparat und seine internen Dynamiken aufbrechen bzw. reformieren können?

Wunder sollte man nicht erwarten, da diese Materie sehr komplex ist und vermutlich immer komplexer werden wird. Doch zeigt sich schon jetzt, dass viele Reformansätze greifen. Dies wird dem Vatikan international bereits bescheinigt. Man darf auch nicht vergessen, dass sich das primäre Agieren der finanziellen Aktivitäten des Heiligen Stuhles im „Ausland“, im italienischen Wirtschaftsraum, abspielt. Im Übrigen halte ich es für wichtig zur Ehrenrettung Italiens zu betonen, dass sich illegale und hoch kriminelle Vergehen im pekuniären Bereich nicht auf ein Land und seine Mentalität beschränken, sie haben wahrhaft globalen Charakter. Moralisch verwerfliche Spekulationen mit Aktienpaketen, Unterschlagungen, der unerlaubte Transfer von hohen Summen und Geldwäsche sind kein Privileg italienischer Banken, sondern kommen ebenso an internationalen Börsen und in deutschen Kleinstadtbanken vor.

 

ZENIT: Was kann für die Annäherung Roms an die weltweiten Ortskirchen getan werden?

Ich erlaube mir die Frage umzustellen: Was kann für die Annäherung der Ortskirchen an Rom getan werden? Auch in den vergangenen Zeiten, Jahrhunderten, gab es Angehörige der Römischen Kurie, die aus der ganzen Welt kamen. Sie alle brachten die Erfahrungen und Kenntnisse der Heimat in ihre Arbeit im Dienste des Papstes und Weltkirche gewinnbringend ein. Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurden die Bemühungen in beachtlichem und bewundernswertem Maße intensiviert, die Ortskirchen in die Verwaltung der Gesamtkirche einzubinden. Leider ist der Aufruf der Päpste an die Teilkirchen, Mitarbeiter für den Dienst in der Ewigen Stadt freizustellen, oft nicht beantwortet worden. Bisweilen konnte man auch beobachten, dass Diözesen unliebsame Kleriker, die man zuhause nicht mehr wollte, nach Rom abschob. Doch es gab und gibt auch Gegenbeispiele, dass Bistümer dem Heiligen Stuhl ihre fähigsten Mitarbeiter zur Verfügung stellten.

 

ZENIT: Wird bei diesem Reformpunkt Kardinal Reinhard Marx, der über die Anwendung des Subsidiaritätsprinzip innerhalb der Kirche promoviert hat und führendes Mitglied des Rates ist, eine besondere Rolle zukommen?

Ich beneide die acht Kardinäle, die den Heiligen Vater beraten sollen, nicht um ihre Aufgabe. Auf sie lastet eine große Verantwortung. Kardinal Marx und die übrigen Mitglieder des Rates werden jedoch ihre Erfahrungen, die ganz unterschiedlicher Natur sind, als wertvolle Impulse in die Reformüberlegungen einbringen können.

Wir bedanken uns für das Gespräch, Herr Nersinger.