Im Schutze der Kuppel

Rom 1943: Jüdische Kinder überlebten die deutsche Besatzung im Dachstuhl einer Marienkirche versteckt

(Zenit.org) – Zugig und dunkel ist es unter dem Dach der Kirche Santa Maria dei Monti. Im engen Gang hinter der Apsiswölbung kauern zwanzig kleine Mädchen in Decken gehüllt. Von den Gassen hallen metallene Stiefelschritte und Befehlsgebrüll in das Versteck. Es ist Winter 1943. SS-Truppen und verbündete Faschisten durchkämmen das römische Altstadtviertel Monti nach Juden. Der Auftrag, aus der seit September besetzten Papststadt mindestens 8000 Juden zu deportieren, kam direkt von Reichsinnenminister Heinrich Himmler in Berlin.

Die Furcht der Kinder, entdeckt zu werden, teilten sie mit den Nonnen des benachbarten Konvents Sacro Cuore. Nach der dramatischen Ghetto-Razzia am 16. Oktober, bei der über tausend Juden verhaftet und deportiert wurden, fühlte sich kein jüdischer Bürger mehr sicher in der Stadt. Die Ordensfrauen nahmen Kinder als Internatsschülerinnen oder Novizinnen getarnt auf. Papst Pius XII. hatte per Depesche nach der ersten Verhaftungswelle die Klausur der Klöster aufgehoben und den Klerus aufgefordert, jüdische Mitbürger zu beherbergen. Das Kirchenamt schützte nicht vor Strafe bei Entdeckung oder Verrat. Don Pietro Pappagallo, der Juden und Widerstandskämpfer in der Via Urbana, nur 400 Meter weiter, versteckt hatte, wurde von der SS am 24. März 1944 hingerichtet. Ein italienischer Faschist hatte ihn denunziert, um das von den Deutschen ausgeschriebene Kopfgeld einzustecken.

Kindliche Wandkritzeleien als Zeitvertreib

Die Besatzer ahnten natürlich, dass die zahlreich über Rom verteilten Klöster und Schwesternhäuser als Unterschlupf dienten und drohten mit Razzien. Die Tarnung im Konvent muss jedenfalls irgendwann nicht mehr sicher gewesen sein, weswegen die Kinder umverlegt wurden.  Im Dachstuhl der Kirche gab es eine abschließbare Kammer und eben diesen Gang oberhalb der Apsis, der nur über eine klapprige Leiter zu erreichen war. Wie lange die Mädchen an dem unwirtlichen Ort ohne fließend Wasser und Heizung ausharren mussten, ob Stunden oder gar ganze Tage, ist nicht bekannt.

Die 2001 wieder entdeckten Wandgraffiti der Kinder spornten Pfarrer Don Federico Corrubolo an, der Geschichte nachzugehen, die offenbar nach dem Krieg in Vergessenheit geraten war. In die Wand geritzte Zeichnungen von Spielsachen, Fratzen, jüdischen Symbolen und Texten sowie eine Skizze des Kirchenverstecks sind lebendige Zeugnisse  der kindlichen Gedankenwelt, ihrer Ängste und Hoffnungen. Die deutsche Besatzung in Rom dauerte bis zum 4. Juni 1944 an, acht Monate. Für diejenigen, die im Verborgenen leben musste, waren es lange Monate.

„Herberge im Schatten dieser Gewölbe“, verewigte Ada Sermoneta mit schöner Kinderschrift in den grauen Putz. Sie unterschrieb mit ihren Namen. Daneben sieht man die Zeichnung des jüdischen Brots in Form eines geflochtenen Zopfs, Challa genannt. Vielleicht verbrachte die kleine Ada einen Freitagabend, dem jüdischen Ruhetag, in dem kalten Gang, hungrig und in Erinnerung an das süße, ofenfrische Brot, das an Sabbat in der Familie gereicht wird. Sie war von ihrer Familie getrennt worden, die sich anderweitig verstecken musste – vielleicht in einem der anderen 94 christlichen Einrichtungen der Stadt, die den Verfolgten ihre Pforten öffneten.

Viele Juden wurden in Konventen versteckt

Don Federico studierte die Namenslisten der Klosterschülerinnen und die Ausgabenbücher, er spürte jüdische Familien auf und befragte die Überlebenden. „Die Kirche ist im Besitz der Namensliste der Geretteten, die sie jedoch aus Gründen der Privacy nicht publizieren möchte. Die Mädchen waren zwischen sechs und vierzehn Jahre alt“, erzählt der heutige Pfarrer Don Francesco Pesce, der die Recherchen  seines Vorgängers fortsetzte. „All diese Kinder haben den Holocaust überlebt“ versichert er. Mittlerweile gibt es auch eine Gedenkplatte im Vorraum der Sakristei von S. Maria dei Monti.

„In diesem Viertel wurden schätzungsweise 100 Juden von christlichen Familien und Institutionen gerettet“, erzählt der Priester stolz. In der gesamten Stadt waren es laut der Historikerin Anna Foa sogar mindestens 4447 von den circa 12.000 im damaligen Rom lebenden Juden, die in Klöstern, Kirchen und bei Familien versteckt dem Vernichtungswahn des Nazi-Faschismus entkamen. Am mutigsten war die Ordensgemeinschaft Unserer Lieben Frau von Sion in dem Viertel Trastevere, die 187 jüdischen Männern, Frauen und Kindern monatelang in ihren Mauern aufnahmen.

Im Vergleich zu anderen von der deutschen Wehrmacht okkupierten Gebieten ist die Zahl der Deportierten in Rom relativ gering: 2091. Himmler war erzürnt über „die magere Ausbeute“ bei der Ghettoräumung. Weitere tausend Juden wurden aufgrund von Denunziationen in den Wintermonaten nach dem 16. Oktober 1943 in ihren Wohnungen oder Verstecken aufgegriffen. Die SS hatte die Namenslisten und Adressen der jüdischen Bürger aus der Synagoge und den faschistischen Einwohnermeldeamt konfisziert. Zweifellos hat die katholische Kirche einen wichtigen Anteil an der Rettung dieser Menschen – ungeachtet der Debatte um die persönlichen Versäumnisse oder Verdienste von Papst Pius XII. während des Holocausts.

Gedenkfeier für die Opfer der Ghetto-Räumung durch die SS am 16. Oktober 1943 in Rom; Foto: Sant'Egidio
Gedenkfeier für die Opfer der Ghetto-Räumung durch die SS am 16. Oktober 1943 in Rom; Foto: Sant’Egidio

Wiedergutmachung für jahrhundertelange Zwangskonvertierungen

Das Viertel Monti grenzt unmittelbar an die Kaiserforen im Herzen des Zentrums. In der Antike hieß es Suburra und war Wohnstätte des Proletariats, von Dirnen und Schankwirten. Enge und Armut zeichneten es noch bis in die Zeit des Faschismus aus, als etwa fünfzehn jüdische Familien dort mit ihren christlichen Nachbarn friedlich zusammen lebten. Man kannte sich und half gegenseitig in der Not, einschließlich der örtliche Klerus. Heute nennt man das Inklusion.

Monti ist heute ein In-Viertel. Der Tourist, der nach dem Besuch des überfüllten Forum Romanums in seine stillen Gassen fliehen, um sich in den Gaststätten zu stärken, ahnt nichts von dieser jüngeren Vergangenheit . „Die Zeugnisse sollten erhalten bleiben, am Besten in Form eines Museums”, wünscht sich Don Francesco. Ob die materiellen Hinterlassenschaften für eine Ausstattung à la Anne-Frank-Museum reicht, ist fraglich. Außer den Graffiti erinnern nur ein paar rostige Bettgestelle und modrige Tischplatten an das Versteck der Kinder.

Dennoch gibt es einen weiteren Grund, weshalb gerade diese Episode der Rettung von Juden der Erinnerung verdient. Sie versöhnt mit der Vergangenheit des Ortes. Das Versteck liegt ausgerechnet in der Kirche, in der noch bis 1870 Juden getauft wurden. Im Haus der Katechumenen und Neophyten nebenan wurden sie im Evangelium unterwiesen. Es war ein von den Juden gehasster Ort, denn die Konvertierung geschah oft unter äußerstem Druck. Dazu gehörte auch die Praxis,  jüdischen Eltern ihre Kinder wegzunehmen, um „ihr Seelenheil mit einer christlichen Erziehung zu retten“.