Tod in Staatsgewahrsam

In Italien wird exzessive Gewalt durch die Polizei nur selten bestraft. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Italien wiederholt aufgerufen, ein Anti-Foltergesetzes  im Strafbuch zu verankern.

 

(Zenit.org) – Der junge Stefano Cucchi gehört zu denjenigen, die ihr Leben in Staatsgewahrsam verloren haben.  Der Justizfall hat großes Echo in der italienischen Öffentlichkeit gefunden. Nach sieben Jahren Verhandlungen und vier Gerichtsinstanzen, die keinen Verantwortlichen ausmachen konnten, scheinen die neuen Ermittlungen der Obersten Staatsanwaltschaft nun endlich die richtige Fährte zu verfolgen. Sie führt zur Gendarmerie, der Arma dei Carabinieri, die den jungen Mann verhaftete und verhörte. Unverhältnismäßige Gewaltanwendung durch die Polizei ist keine Seltenheit im Belpaese. Nur selten wird sie strafrechtlich verfolgt oder nur mit vergleichsweise milden Urteilen geahnet. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) führt diesen Umstand auf eine Gesetzeslücke zurück. Italien hat zwar 1989 die UN-Antifolterkonvention unterzeichnet, jedoch nie seine Landesgesetze entsprechend angepasst. Das hat Folgen für die strafrechtliche Verantwortlichkeit und Verjährung von Körperverletzungen, die nach der UN-Definition als Folter bezeichnet werden.

Leichnam von Stefano Cucchi  Foto: velino.it
Leichnam von Stefano Cucchi Foto: velino.it

Geschlagen, getreten und dann vergessen

Der 31jährige Geometer Stefano Cucchi wurde am 15. Oktober 2009 wegen Drogenbesitzes (21 g Haschisch) in einem Park in Rom festgenommen und verstarb eine Woche später im Gefängnishospital. Die offizielle Todesursache der Behörden lautete zunächst Overdose. Der Leichnam wies jedoch Spuren von schweren Misshandlungen auf: Hämatome und Prellungen im Gesicht und am Körper, Fraktur des Kiefers, mehrerer Rippen und zweier Lendenwirbel sowie innere Verletzungen. Diese allein hätten nicht automatisch den Tod zufolge gehabt, wäre Cucchi im Gefängnishospital entsprechend medizinisch behandelt und ernährt worden, heißt es im Autopsie-Befund. Der unter Magersucht leidende junge Mann wog bei seinem Tod nur noch 37 kg.

Wegen dieser Schlussfolgerung richtete sich die erste Anklage gegen die Ärzte und Pfleger des Gefängnishospitals wegen fahrlässiger Tötung. Die drei Gefängniswärter von der römischen Haftanstalt Regina Coeli, die Cucchi in Gewahrsam hatten, wurden hingegen der Körperverletzung angeklagt. Nach einem ersten Schuldspruch sprach das Berufungsgericht alle Angeklagten frei: die Wärter aus Mangel an Beweisen, das medizinische Personal, weil kein Straftatbestand nachgewiesen werden könne.

Wende in Prozessgeschichte

Erst nachdem sich die Angehörigen Cucchis an die Oberste Staatsanwaltschaft wandten, wurde Ende 2015 ein neues Ermittlungsverfahren eröffnet, und zwar gegen die Carabinieri, die Militärpolizisten, die Stefano in der Nacht festnahmen. Nach Zeugenaussagen verprügelten die drei diensthabende Carabinieri den Mann in der Kaserne und brüsteten sich anschließend vor Freunden und Kollegen damit „dem Drogensüchtigen eine deftige Lektion erteilt zu haben“. 

Stefano Cucchi mit Familie Foto: velino.it
Stefano Cucchi mit Familie Foto: velino.it

Am 17. Januar erfolgte nun eine Wende: Der Staatsanwalt hat öffentlich Anklage gegen die drei Militärpolizisten wegen Mordes mit bedingtem Vorsatz erhoben. Ferner müssen sich zwei weitere Kollegen der Fälschung von Dienstprotokollen und der Verleumdung verantworten. Ein erster bedeutender Schritt der Justiz ist gemacht. Das geforderte Strafmaß wird demnächst bekanntgegeben.

Die mächtige Gewerkschaft der Ordnungskräfte

Die Wiederaufnahme des Prozesses ist der Beharrlichkeit von Ilaria Cucchi, der Schwester, und ihres Anwaltes zu verdanken. Eine entscheidende Rolle spielte dabei der Druck der Öffentlichkeit. Sie publizierte Fotos des gemarterten Körpers in der Presse, organisierte sits-in und Kundgebungen. Neben Solidarität in der Bevölkerung traf sie auch auf Feindseligkeiten der Institutionen. Die Polizeigewerkschaft (Coisp) sah die Ehre ihres Corps angegriffen und zeigte Ilaria Cucchi wegen “Anstiftung zum Hass und Misstrauen gegen die gesamte Körperschaft” an. Auch die mächtige Vertretung der Arma dei Carabinieri stellte sich schützend vor ihre angeklagten Kollegen.

Cucchi ist kein Einzelfall

Die italienische Justiz verfolgte exzessive Gewaltanwendung durch Ordnungskräfte bisher nur sehr zögerlich. Der Fall Cucchi hat den Verdienst, das Problem der unkontrollierten Gewaltausschreitung durch die Sicherheitskräfte in die Öffentlichkeit gezerrt zu haben. In Polizeirevieren mag sie nicht die Regel, sondern die Ausnahme darstellen. Dennoch richtet sie sich, in den bekannt gewordenen Fällen, vor allem gegen bestimmte Gruppen wie Drogensüchtige, Obdachlose, Transvestiten und Homosexuelle. Die freie Organisation „Ristretti orizzonti“ schätzt eine hohe Dunkelziffer von Gewaltpraxis hinter den Gefängnismauern. Der Verein „Antigone“, der sich seit 1991 für menschenwürdige Haftbedingungen einsetzt, zitiert in den letzten 17 Jahren 230 Todesfälle von Gefängnisinsassen,  die ohne nachgewiesene Ursache seien. Die von den Angehörigen angestrengten Verfahren werden meistens aus Mangel an Beweisen eingestellt.

Ilaria Cucchi mit Anwalt Fabio Anselmi Foto: velino.it
Ilaria Cucchi mit Anwalt Fabio Anselmi Foto: velino.it

Rechtsanwalt Fabio Anselmi, der Ilaria Cucchi zur Seite steht, hat sich auf diese Fälle spezialisiert. Er vertrat auch die Eltern von Federico Aldrovandi, ein 18jährigen Gymnasiast aus Ferrara, der 2005 nachts auf dem Heimweg von einer Party von einer Polizeistreife tot geprügelt wurde. Zwei Schlagstöcke gingen dabei zu Bruch. Die vier Polizisten, darunter eine Polizistin, waren nach der überraschend milden Strafe – wegen einer Art Amnestie verbüßten sie nur sechs Monate in Hausarrest – wieder in den Dienst zurückgekehrt.

Politische Obstruktion gegen Gesetzesentwurf

Auf diese Anomalie wies bereits der EGMR anlässlich des Prozesses um den brutalen Polizeieinsatz auf dem G-8-Gipfel in Genua (2001) hin, der einen Toten und 500 Verletzte zurückließ, darunter auch einige Nicht-Italiener. Keiner der beschuldigten Polizisten wurde je aus dem Amt suspendiert. Die Wenigen, gegen die wegen Körperverletzung ermittelt wurde, gingen wegen Verjährung straflos aus. Das Urteil des EGMR vom 7. April 2015 hatte die Polizeiaktion ausdrücklich als Folter eingestuft (Art. 3 EMRK). Straßburg betonte, dass aufgrund der italienischen Gesetzeslücke Vorfälle exzessiver Polizeigewalt nicht ausreichend untersucht und bestraft werden können. Italien wurde aufgefordert, das Folterverbot im Strafrecht zu verankern. Ein explizites Folterverbot habe eine abschreckende Wirkung und könnte Sicherheitskräfte in Zukunft von unverhältnismässiger Gewaltanwendung bei Festnahmen oder auf Demonstrationen abhalten.

Ein entsprechend ausgearbeiteter Gesetzesentwurf wurde vergangenen Oktober auf Betreiben von Innenminister Angelino Alfano (Nuovo Centrodestra) in der zweiten Kammer, dem Senat, gestoppt. Es sollte erst einmal die Polizeigewerkschaft konsultiert werden, um eine Instrumentalisierung des Gesetzes zu verhindern.

Nachtrag: Das Gesetz wurde am 5. Juli 2017 im Parlament verabschiedet. Folter wird mit Strafen zwischen vier und zehn Jahren bestraft. Öffentliche Bedienstete wie Polizisten, die foltern und ihre Macht missbrauchen, können mit bis zu zwölf Jahren Haft bestraft werden.