Erdbeben Italien: Benedikts‘ Geburtsort Nursia auf den Knien

Mittelalterliche Städtchen im Zentralapennin zerstört

Zenit.org  Eine Gruppe von knienden Männer und Frauen neben Benediktinermönchen vor der zerstörten Basilika San Benedetto in der umbrischen Stadt Norcia, die Hände stumm zum Gebet erhoben. Das Foto wurde zum Emblem des jüngsten Erdbebens in Italien, zur Ikone des Schmerzens angesichts der gnadenlosen Zerstörungswut der Natur. Die Geste erinnert an frühere Stoßgebete bei Epidemien oder Kriegen, wenn das notleidende Volk ihre Schutzheiligen um Hilfe anflehte.

Betende Einwohner vor der zerstörten Basilika San Benedetto in Norcia Foto: pababoys.com
Betende Einwohner vor der zerstörten Basilika San Benedetto in Norcia Foto: pababoys.com

Norcia (lat. Nursia), ist die Geburtsstadt des heiligen Benedikt (480-547), Gründer der weltweit verbreiteten Ordensgemeinschaft der Benediktiner. Sie hat als ältester Orden im Westen wie kein anderer das monastische Leben und die Kultur in Europa geprägt. Die Basilika wurde im Mittelalter über seinem Wohnhaus errichtet, so die Legende. Von ihr steht nur noch die romanische Fassade aufrecht, dahinter und seitlich quellen Schuttberge heraus. Wie eine klaffende Wunde durchzieht eine lange Erdspalte den Platz vor der Kirche. Nach geologischen Berechnungen hat sich ein 130 qkm großer Erdsockel um bis zu 70 cm gesenkt. Das spirituelle Motto der Benediktiner„Ut in omnibus glorificetur Deus – Auf dass Gott in allem verherrlicht werde“ scheint angesichts dieser Katastrophe auf eine harte Probe gestellt.

Vergangenen Sonntagmorgen, am 30. Oktober, wurde der zentrale Apennin abermals von einem schweren Erdbeben heimgesucht, das bis nach Österreich zu spüren war und mindestens 30.000 Menschen obdachlos werden ließ. Mit einer Stärke von 6,5 auf der Richterskala ist es das bisher schwerste Beben nicht nur seit letztem August, sondern seit 1980 in ganz Italien. Wie durch ein Wunder gibt es allerdings diesmal – anders als im August in Amatrice – keine Toten zu beklagen. Die Menschen waren durch den nicht abklingenden Erdbebenschwarm als Folgeerscheinung des Augustbebens gewarnt. Dafür ist jedoch der Schaden an historischen Bauwerken umso dramatischer.

Die zerstörte Basilika San Benedetto in Norcia Foto: pababoys.com
Die zerstörte Basilika San Benedetto in Norcia Foto: pababoys.com

Die meisten Orte im Umkreis von 80 km um das Epizentrum Norcia, das nur 25 km Luftlinie von Amatrice entfernt liegt, sind hart getroffen. Das Epizentrum hat sich nord-östlich in Richtung Marken verschoben. Es sind die Abhänge und Hochebenen des Monte Vettore im atemberaubend schönen Naturschutzgebiet der Monti Sibillini. Hier gibt es viele kleine intakte Städtchen aus dem Mittelalter, meistens nur von wenig hundert Seelen bewohnt, die ihre Bauten und Traditionen liebevoll pflegen. Eine solche Perle ist das dreieckförmige Castelluccio di Norcia aus hellem Kalkstein. Die in schillernden Farben blühenden Linsenfelder in der Ebene ziehen jährlich tausende von Reisenden an. Castelluccio ist seit Sonntag ein Trümmerhaufen, wie ausgelöscht.

Castelluccio di Norcia
Castelluccio di Norcia

Castelsantangelo an dem Fluss Nera sieht nicht viel besser aus. In dem nur 280 Einwohner zählenden Borgo gibt es 22 Kirchen, die alle aus dem 12.-14.Jh. stammen. Viele enthalten alte Fresken, Altarbilder und Skulpturen. In welchem Ort der Welt gibt es pro 12 Einwohner eine Kirche? Die Gegend stellte zweifellos ein Unikum an Dichte von mittelalterlichen christlichen Kultstätten dar. Diese Gebäude sind nun fast ausnahmslos zerstört.

Gerade um diese weniger bekannten, kleinen Kirchen und Kapellen ist der italienische Kunsthistoriker Fabio Isman besorgt. „Die Erdbeben treffen das Herz des zwar weniger bekannten Italiens, doch in den Höhen des Apennin waren bisher noch viele der Ursprünge des mönchischen Lebens und ihrer Kunst bewahrt. Sie sind nun bedroht und könnten restlos verschwinden,“ schreibt er in der römischen Tageszeitung Il Messaggero.

In Norcia selbst sind neben der besagten St.-Benedikt-Basilika, dem Schmuckstück der Stadt, außerdem die Kathedrale Sante Maria Argentea und die Santa Maria della Grazie in dem Vorort Monte di Campi stark in Mitleidenschaft gezogen. Aus dem Kloster Santa Maria della Pace in der Altstadt mussten Feuerwehrleute Nonnen aus ihrer Klausur befreien, nachdem die Tür zu ihrem Zellentrakt zusammengebrochen und eine Wand eingestürzt war. Stark beschädigt ist auch die mittelalterliche Wehrkirche Santa Maria in Pantano an der Via Flaminia. Mit der im 5. Jh. von dem griechisch-syrischen Eremiten San Spes gegründeten Eutizio-Abtei in dem benachbarten Preci wurde eines der ältesten Klöster der Region völlig zerstört.

Um das gesamte Ausmaß der Katastrophe zu bemessen, ist es noch zu früh. Viele Altstädte wurden wegen Einsturzgefahr gesperrt und dürfen nur in Begleitung von Sicherheitskräften betreten werden. Die Nachbarregionen leihen derzeit ihr Fachpersonal aus den Kulturgüterverwaltungen (Soprintendenze) für die Dokumentation der Schäden aus. Eine solche nimmt Zeit in Anspruch. Die Rede ist von mindestens 5000 beschädigten historischen Gebäuden, darunter Kirchen, Campanili, Museen und Paläste, die sich auf drei Regionen verteilen: hauptsächlich die Marken, dann Umbrien und zu einem geringeren Teil Latium. Ein Mehrfaches dieser Summe werden die beschädigten mobilen Kunstwerke ausmachen.

Die Erdstöße hatten noch in einem Radius von 160 km Schäden angerichtet. Während in dem Dom von Orvieto nur Putzbrocken von der Decke herabstürzten, weist das mittelalterlichen Kastell von Giove bei Terni gefährliche Risse auf. Das gilt auch für Jesi in der Provinz Ancona, wo im Jahr 1192 auf dem Marktplatz der künftige Kaiser Friedrich II. das Licht der Welt erblickte. Dort ist das Dach von San Giuseppe vom Einsturz bedroht, ähnlich wie im umbrischen Calvi die Fassade von Santa Maria Maddalena sowie der romanische Campanile von Bagnoregio bei Viterbo, Unesco-Weltkulturerbe.

Selbst Rom blieb nicht verschont. Es mussten einige Kirchen geschlossen werden, wie die Pilgerkirche San Lorenzo fuori le mura, Sant‘ Ivo della Sapienza und San Francesco di Paola auf dem Quirinal, wo große Risse in der Fassade oder Kuppel gemeldet wurden. Es handelt sich hierbei ausschließlich um bedeutende Bauten, Meilensteine der Architekturgeschichte. Risse in der Fassade sind immer Zeichen, dass das Gefüge zwischen der Wand, den Pfeilern und dem Gebälk auseinandergeraten ist. Diese Gebäude sind zunächst erhalten, aber langfristig nicht geschützt. Ein erneuter Erdstoß kann sie zum Einstürzen bringen.

Die Regierung Matteo Renzi verspricht Gelder für den Wiederaufbau bereitzustellen. „Wie damals nach dem schrecklichen Beben in Umbrien im 1997, als das Kreuzgratgewölbe der Franziskuskirche in Assisi einbrach und vier Menschen erschlug, soll wieder alles rekonstruiert und restauriert werden“, versichert Antonia Pasqua Recchia, die Staatssekretärin im Ministerium für Kulturgüter. „Wir werden Fragment für Fragment auf den Wänden und den Gemälden instand setzen und auf diese Weise den vom Erdbeben betroffenen Orten ihr Leben zurückgeben.“

Dass das Versprechen der Regierung für alle zerstörten Borghi eingehalten wird, bezweifeln viele Menschen aus dem entvölkerten Zentralapennin. Für Norcia, das mit seinen 5000 Einwohnern größer ist und sich der bedeutenden traditionellen Produktion von Wurst- und Schinkendelikatessen rühmt, mag sich die Situation etwas anders darstellen. Die Stadt ist nicht nur religiöser sondern auch gastronomischer Anziehungspunkt.

Bezeichnenderweise kommt ein Lichtstrahl der Hoffnung von „religiöser Seite“, über die Benediktiner. Sie hospitieren seit Jahren den erfolgreichen Unternehmer Brunello Cucinelli zu regelmässigen Exerzitien in ihrem Konvent. Cucinelli liegt das Kloster und die Stadt besonders am Herzen. Der amerikanische Prior, Folsom Cassian, ist sein geistlicher Vater. Der „Kashmir-König”, wie der Textilhersteller genannt wird, hat gleich nach der Katastrophe “seinen Brüdern“ einen Besuch abgestattet und versprochen, den Wiederaufbau von Kirche und Kloster zu sponsern. “Bis gestern war Norcia ein Beispiel von Lebensqualität, es gab Wohlergehen, Spiritualität, Mystik, Menschlichkeit, Stille. Wir bauen diese Stadt wieder auf, denn Norcia ist die Stadt der Seele. Nach diesem Unglück wird auch die Benediktinerregel einen neuen Aufschwung erleben.” Für ihn ist die Tatsache, dass von der Basilika nur die Fassade mit der Fensterrosette und den Statuen des Benedikt und seiner Schwester Scholastika aufrecht stehen blieben, ein göttliches Zeichen.

Norcia pflegt übrigens mit dem bayrischen Ottobeuren eine Städtepartnerschaft, mit dem es die uralte Benediktinerabtei verbindet.