Paul VI.: Ein Papst im Zeichen des Widerspruchs

Neue Biographie über Paul VI. von Vatikanist Ulrich Nersinger

Die Seligsprechung von Paul VI. am 19. Oktober zwingt zu einer Rückschau auf ein Pontifikat (1963-1978), das wie kein anderes den Umwälzungen seiner Zeit und somit starker Kritik ausgesetzt war. Das fünfzehnjährige Petrusamt von Giovanni Battista Montini (1897-1978) fällt in die „bleierne Zeit“ des italienischen Klassenkampfs und Terrorismus, der Forderung nach Laizismus und der Verbreitung kommunistisch-atheistischen Gedankenguts im Bürgertum.

Innerkirchlich sah sich der frühere Vatikandiplomat und Erzbischof von Mailand eingekeilt zwischen dem Ruf nach Modernisierung der Kirche und den Traditionalisten, die den Reformeifer bremsten und die dem Papst vorwarfen, liberal-sozialistischen Kreisen nahezustehen. Deren bekanntester Vertreter ist der exkommunizierte Kardinal Lefebvre, der das neue missale romanum boykottierte. Paul VI. war am Ende seines Pontifikats physisch und psychisch ausgezehrt. Die Anstrengungen, das „Schiff“ angesichts des Sturms auf mittlerem Kurs zu halten, wurden von vielen Zeitgenossen nicht als Behutsamkeit, sondern vielmehr als Unentschlossenheit gewertet. Der französische Philosoph Jean Guitton, Vertrauter des Papstes, prophezeite schon damals, dass die wahren Leistungen von Paul VI. erst von der Nachwelt entdeckt werden würden. Mittlerweile sind 36 Jahre seit seinem Tod verstrichen.

Der bekannte Autor und Vatikanexperte Ulrich Nersinger bemüht sich nun mit einer neuen Biographie um eine Rehabilitierung des vergessenen Papstes. Aber es geht ihm nicht nur darum, den eher scheu und streng wirkenden Montini aus dem Schatten des charismatischen Vorgängers und Nachfolgers zu ziehen. Sein Anliegen ist auch, auf wenig bekannten Seiten und Verdienste des Kirchenoberhauptes hinzuweisen. Dabei entsteht vor den Augen des Lesers das Bild eines kulturell überaus aufgeschlossenen, gütigen Mannes, der den Dialog mit den Menschen suchte und der nie Aufhebens um seine Person und Taten machte – er war von Jugend an von schwacher Gesundheit. So hat er (vergeblich) bei dem blutigen Entführungsdrama des italienischen Parteisekretärs Aldo Moro im März 1978 die Rotbrigardisten aufgefordert, ihn, den Papst, anstelle des Familienvaters und alten Jugendfreundes als Geisel zu nehmen.

Große Beachtung widmet Nersinger dem Reformwerk des Papstes, das zu den umfassendsten der Kirchengeschichte gehört. Fast alle heute bekannten päpstlichen Einrichtungen gehen auf seine Initiative zurück: die der Ökumene, der Gerechtigkeit und des Friedens, die für Laien und Familie, für interreligiösen Dialog und die Medien! Damit ebnete er Johannes Paul II. den Weg. Er darf als eigentlicher Konzilspapst gelten, sein Pontifikat ist ausschlaggebend für Rezeption und Hermeneutik des Zweiten Vatikanischen Konzils. Denn ihm kam nach dem vorzeitigen Tod von Johannes XXIII., der das Konzil einberufen hatte, die schwierige Aufgabe zu, die vielseitigen Reformwünsche des Klerus und der Gläubigen zu interpretieren, zu kanalisieren, und in die Tat umzusetzen. Paul VI. verdanken wir die Liturgiereform, durch die unter anderem die Landessprache in der Messfeier eingeführt wurde. Auch auf anderen Gebieten leistete er Pionierarbeit, sei es als erster „Reise-Papst“, der alle Kontinente besuchte, als radikaler Pazifist – erinnert sei hier an die berühmte Ansprache vor der UNO in New York – oder als derjenige Pontifex, der als erster den Dialog mit den Orthodoxen und Anglikanern aufnahm. Von großem Wert gelten seine prophetischen Friedens- und Sozialenzykliken. Hingegen stieß die inmitten der 68ziger die Enzyklika Humanae Vitae mit ihrer Ablehnung von künstlichen Verhütungsmitteln damals mehrheitlich auf Kritik und trugen Montini den Spitznamen „Pillen-Paul“ ein. Heute hingegen bezeichnen viele Bischöfe die von Paul VI. ausgesprochene Warnung vor der Trennung und Sexualität und Liebe als weise Voraussicht.

Nersinger legt keinen trockenen Bericht vor. Wie schon in früheren Werken verpackt der Autor Fakten und Daten in einem bunten Mosaik von Anekdoten, Zitaten von Zeitzeugen und spannenden Geschichten, wobei es ihm gelingt, die Stimmung der 60ziger und 70ziger wieder aufleben zu lassen und die komplexe historischen Hintergründe mit einzubeziehen, die das Agieren des Papstes beeinflusst haben mögen. Sein gepflegter, bisweilen blumiger, an Reinhard Raffalt erinnernder Erzählstil, sein „Hineintauchen“ in die Jahrhunderte und Traditionen der Kirche, macht die Lektüre zu einem Lesegenuss für alle Interessierten.